Christentum und Moderne. Herman van Rompuy
einiger weniger beinahe zum Untergang aller wurde. Glücklicherweise hat der Klimawandel zu einem Nachdenken geführt. So wurde deutlich, dass wir wählen müssen – zwischen Jetzt und Bald, zwischen Mein und Dein.
Mit seiner Tradition der Verbundenheit mit dem und der Hinwendung zum Anderen kann das Christentum ein Gegengewicht zu diesen Tendenzen unserer Zeit sein. Der Bedarf an sozialem und familiärem Kapital ist groß. Vereinsleben, Familien und beständige Beziehungen fungieren dabei als Antidot (Gegengewicht) gegen Vereinsamung und Verbitterung. Das Christentum hat natürlich kein Monopol auf diese Rolle des Gegengewichts, weder ideologisch noch faktisch. Dennoch gehört es zum Kern seiner Botschaft, sie wahrzunehmen. Auch Nicht-Gläubige bezeichnen die Liebe als transzendent: Sie übersteigt Menschen und verbindet sie dadurch.
Die größte Aufgabe dieses Jahrhunderts ist es, die Verbundenheit der Menschen untereinander im Kleinen zu stärken. Solidarität darf nicht auf die organisierten sozialen Sicherungssysteme begrenzt sein. Sie sind durch Gesetze erzwungen und durch Abgaben finanziert. Was wir brauchen, sind Freiwilligkeit und der spontane Einsatz für den Anderen um seiner selbst willen. Ohne diese menschliche Infrastruktur hat die strukturelle Solidarität auf Dauer keine Basis.
Wenn unsere Gesellschaft diesen Namen zu Recht tragen will, muss sie Bindungskräfte entwickeln. Sie muss ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickeln, das sich nicht gegen andere richtet, sondern dem Wunsch entspringt, Gemeinschaft zu leben und Dinge gemeinsam zu tun. Unsere Zeit ist von Polarisierung und Aggression geprägt. Unter der Maske der Klarheit und Ehrlichkeit herrschen oft sinnlose Verhärtung und eine Verrohung der menschlichen Umgangsformen. Respekt vor dem Anderen ist eine Grundlage des Gemeinwesens. „Gesellschaft“ muss „Gemeinschaft“ werden.
Freilich – das Christentum ist mehr als nur ein ethisches System. Es darf nicht allein zum Aufbau der Gesellschaft beitragen. Die christliche Spiritualität, die sich auf den Anderen und auf „den ganz Anderen“ hin orientiert, bleibt einzigartig, wenn sie authentisch gelebt wird. Es gibt aber auch eine Spiritualität der Laien, die das Sakrale im Menschen erlebbar macht. Spiritualität steht konträr zum Materiellen. Weil für das Christentum die Orientierung auf den Anderen und auf Gott als „den ganz Anderen“ eine so zentrale Bedeutung hat, wird eine altruistische Ethik möglich.
Das Christentum kann und wird eine wichtige Rolle im spirituellen und ethischen Wiederaufbau spielen, dessen unser Jahrhundert bedarf. Vorausgesetzt, es gibt wirkliche Christen.
Brüssel, im August 2010
Herman van Rompuy
Einleitung
Es wirkt wahrscheinlich ein wenig seltsam, wenn ein Politiker ein Buch über ein eigentlich unpolitisches Thema schreibt. Er macht sich dadurch angreifbar. Als Person des öffentlichen Lebens verfolgt ihn alles, was er einmal gesagt hat. Seine politischen Gegner können seine Worte missbrauchen. Seine persönlichen, intimen Ansichten können ins Lächerliche gezogen werden. In anderen Ländern ist es durchaus üblich, dass Politiker öffentlich Zeugnis ablegen. Bei uns nicht. Doch gerade wenn die Zeit für solche Zeugnisse nicht reif ist, müssen wir dafür sorgen, dass sie reif für sie wird.
Andererseits gibt ein öffentliches Mandat Zugang zu einer großen Gruppe von Menschen. So kann auch eine unpolitische Botschaft eine breite Öffentlichkeit erreichen. Für all jene, die davon überzeugt sind, dass es so etwas wie eine „Pflicht“ gibt, über die Dinge zu sprechen, die den Sinn unseres Lebens betreffen, ist der Zugang zu den Medien ein Privileg. Eine Flut von Berichten über vorübergehende, oberflächliche, anekdotische und spektakuläre Ereignisse umgibt uns und bestürmt uns derart, dass es nötig ist, das Schweigen über das Wesentliche zu durchbrechen.
Dieser Essay ist daher nicht politisch, oder, besser gesagt, er ist nicht politisch gemeint. Es sind Überlegungen eines christlichen Intellektuellen, der für Menschen seiner Art einen Platz in der heutigen Gesellschaft sucht und findet. Der Mensch lässt sich zwar kaum aufspalten, weder als Schreibender, noch als Leser. Der schreibende Politiker wird in Versuchung geraten, konkrete Zustände hinter allgemeinen Formulierungen zu verbergen. Dann und wann lässt er sich gehen. Der Leser wiederum wird dann und wann in einem Satz oder Wort eine Anspielung auf konkrete politische Zustände sehen. Manchmal zu Recht, meist jedoch zu Unrecht. Beide werden also versuchen müssen, sich auf ein höheres Niveau zu begeben – oder, besser gesagt, auf ein anderes.
Dabei muss der Leser wissen, dass diese Sätze mitten im Sturm der Dinge geschrieben worden sind, mitten im politischen Gefecht oder Scheingefecht. Der Autor eilt aus dem Trubel an den Schreibtisch, um schreibend zu denken oder seine konservierten Gedanken niederzuschreiben. Der Intellektuelle, der in uns schlummert, weiß, dass große Dinge nur in der „Langsamkeit“ geboren werden können; dass eine Inkubationszeit nötig ist, bevor etwas entsteht, das sich lohnt. Doch das wird immer ein Traum bleiben. Der Zeitdruck nagt an uns. Jeden Tag sind wir unzähligen Eindrücken und Impulsen ausgesetzt, die der Verarbeitung und der Besinnung bedürfen. Die Medien gönnen uns diese Momente der Besinnung nicht; sie sind Akteure im Wahnsinn des Alltags. Doch mitten darin können große Projekte zustande kommen – für den Frieden, für Europa, für unsere Wirtschaftsbetriebe, die Benachteiligten, den Arbeitsmarkt und anderes. Es bleibt jedoch der Geschmack des Unvollendeten. Das gilt auch für dieses Buch. Der Leser muss bereit sein, zu verzeihen.
Postscriptum
Dieses Buch wurde an einigen Nachmittagen in der Stille der Benediktinerabtei von Affligem geschrieben, auf der Flucht vor dem Trubel der Brüsseler Wetstraat, beeindruckt von der Gelassenheit und der Gastfreundschaft der Mönche. Es wurde auch abends geschrieben, in der Polderlandschaft von Zuienkerke, zwischen Weihnachten und Neujahr, während die Kinder schliefen und nicht merkten, dass ihr Vater Seiten mit Dingen füllte, von denen sie nichts ahnten. Hoffentlich lesen sie sie eines Tages. Das Buch sei ihnen und meiner Frau gewidmet.
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