Frühlingsfahrt. Johannes Hucke
Stufen, im gesamten Treppenhaus, hatte Nikolaus mit Rosen belegt, als Annedore mit dem kleinen Valentin aus der Geburtsklinik zurückkam. Sie latschte drüberweg und schimpfte: „Un wär soll des nachher alles wegbutze, hä?“
Geschäftskollegen, Verwandte, einige Vertraute, die es damals immerhin noch gab, glaubten ihm nicht, wenn er von solch absurden Qualen berichtete.
„Du musst sie erst einmal für dich gewinnen“, schlug Jana vor. Nikolaus nahm das ernst; in der Folge fügte er sich Annedores Befehlen restlos, wodurch er nach und nach all seine anderweitigen Kontakte einbüßte, zuerst zu seinen Kumpels, dann zur eigenen Familie, ohnedies nur noch lückenhaft vorhanden, schließlich zu Jana selbst.
Kurzum, Nikolaus führte ein Elendsleben in Abhängigkeit und Überanpassung. Der einzige soziale Raum, der ihm zum Austausch noch verblieb, war seine Arbeitsstelle. Die Schreibtischtätigkeit empfand er zwar als bedrückend langweilig, auf Dauer gar unerträglich für den kreativen Geist, der er einmal gewesen war; doch Annedore hielt erwartungsgemäß nichts von einem Stellenwechsel, der das geregelte Einkommen gefährden könnte. Sie selbst war nur noch stundenweise werktätig, widmete sich andererseits mit Akribie der Erziehung Valentins, vor allem freilich der Säuberung seiner Kleidung.
Nun, zweifellos, nach Ablauf einiger harter Monate, während derer Nikolaus so gut wie gar nicht geschlafen hatte, entwickelte der Vater starke Gefühle für den Sohn und verbrachte seine gesamte Freizeit damit, den Kleinen im Wägelchen durch die Gegend zu schieben, denn die Mutter lag zu Hause und brauchte ihre Ruhe, denn sie war ja depressiv, leicht reizbar und – wer weiß! – am Ende brachte sie sich noch um.
Aus dieser Hölle aus Ängsten und Isolation fand Nikolaus nicht mehr heraus. Seine einzige Hoffnung galt tatsächlich dem Tage, da Annedore endlich wieder so werden würde, wie er sie kennengelernt hatte. Und wahrhaftig, da gab es Stunden, in denen schien es möglich, da entschuldigte sie sich gar für ihr grobes Benehmen, zieh sich selber der Lebensfeindlichkeit, gar der Grausamkeit, äußerte, sie wisse überhaupt nicht, weshalb sie so hexenhaft handle, brach in Tränen aus und ließ sich trösten. Dies freilich stärkte Nikolaus darin, die kurz darauf folgenden Anschuldigungen, alles Leid, das Annedore zu tragen habe, sei nur durch ihn auf sie gekommen, umso williger zu ertragen.
„Du bist en Hannebambel!“, hatte Oschi, ein Kumpel aus Darmstädter Studientagen, die Freundschaft zu Nikolaus beendet.
„Wie kann man sich nur so wegschmeißen?“, hatte ihn Jana gescholten, bevor sie sich für immer von ihm zurückzog.
„So einen Jammerlappen wie Sie hat es bei uns in der Firma noch nicht gegeben“, hatte ihn sein Chef abgefertigt, als Nikolaus, nach einem von Annedores Wutausbrüchen dominierten Wochenende, gewagt hatte, dem Vorgesetzten sein Leid zu klagen. „Sie müssen sich neu positionieren, mein Guter! Nur ein ebenbürtiger Partner hat eine Chance auf Achtung. Merken Sie sich das.“
Nikolaus wusste das ja. Immer wieder hatte er den Versuch unternommen Annedore selbstbewusster gegenüberzutreten, ihr ein für alle Mal zu verdeutlichen, dass er kein Sklave sei. Sie wusste es besser. Sie heulte und tobte, bis der kleine Valentin verängstigt und tränenüberströmt aus dem Kinderzimmer getappst kam, die Kuscheldecke an sich gepresst. Nein, das war das Allerschlimmste, Unerträglichste: dass nun auch noch der Kleine unglücklich wurde! Und mit neuer Hingabe widmete sich Nikolaus den Wünschen seiner kühlen Gemahlin. Bald leistete er gar keinen Widerspruch mehr, einzig darum bemüht, dem geliebten Kind eine glückliche Zeit vorzuheucheln. – Aber war das denn geheuchelt? Lachte der Winzling nicht auffallend viel? Entwickelte er sich nicht prächtig? In der Tat, daran konnte kein Zweifel sein. Valentin gedieh! Er wurde ein empfindsamer, dabei durchsetzungsfähiger, liebevoller, dabei energischer, intelligenter, dabei uneitler Prachtkerl. Dafür hatte sich alles gelohnt: Nikolaus’ Opfer hatte einen Sinn gehabt. Bis zu dem Abend mit den beiden Kerzen.
„Du ... du meinst also, der, wie du sagst, spirituelle Lebenspartner, der wär nicht ich?“
Annedore prustete los: „Hä?“ Sie hatte sich angewöhnt, bei Tisch grundsätzlich nur noch mit vollem Mund zu sprechen; deswegen stopfte sie sich einen dicken Energiekeks zwischen die Zähne und begann zu lästern: „Wie kommscht denn auf so was? Ha du spinnscht ja! Heidernei, guck di doch emol oo! Du – un schpirituell! Des isch jo en Witz ...“
Das war nun allerdings richtig: Besonders vergeistigt hatte sich Nikolaus wirklich nie gefühlt, es sei denn in künstlerischer Hinsicht – aber das war lange her. Unwillkürlich erhob er sich. Narkotisiert von der Ahnung künftigen Leides, wankte er hinüber zum Kinderzimmer. Annedore rief ihm irgendetwas Abfälliges hinterher, doch verstand er es nicht, da die Energiekekse die Aussprache beeinträchtigten. Valentin lag auf seinem Sofa, hörte Musik und fummelte an einer elektronischen Apparatur herum, deren Sinn Nikolaus verborgen war. Mit belegter Stimme, umständlich, wie es seine Art war, doch einfühlsam und zärtlich begann der Vater, die schwierige neue Situation zu erläutern. Doch auch hier erlebte er eine finstre Überraschung. Unwillig dreht sich Valentin zu ihm um und blaffte: „Oh Mann Papa, das gibt’s ja wohl nicht! Merkst du auch mal was? Den Ramon kenn ich schon seit Monaten. Is’ übrigens total nett.“
Als der Dreizehnjährige die Bestürzung in des Vaters Augen sah, ergänzte er obenhin: „Naja, keine Bange, ich komm dich schon besuchen, wenn der Ramon hier eingezogen ist. Hast du eigentlich schon ’ne Wohnung?“
Mechanisch, ohne zu antworten, zog Nikolaus die Tür hinter sich zu. Irgendetwas rieselte beständig in seinem Inneren herab. Würde er demnächst zusammenbrechen? Vermutlich. Auf dem Weg in den Keller nahm er, ohne es recht zu bemerken, ein Lämpchen mit, das ihm Annedore hingestellt hatte. Ach ja, sein Kellerreich und die Treppe dorthin! Noch während der Stillzeit hatte ihn die junge Mutter eines Nachmittags damit überrascht, dass sie ihn in den ehemaligen Hobbykeller führte und ihm selbigen als künftigen Schlafplatz zuwies. Die Tischtennisplatte – ein wenig voreilig für das erwartete Kind angeschafft – stand zusammengeklappt an der Wand; in der Mitte prangte Annedores altes Sofa, Relikt leichterer Zeiten, wie sie sich auszudrücken beliebte, da sie noch häufig triebfreudigen Herrenbesuch empfing. Die gakelige, fleckige Liegestatt hatte sie fein säuberlich mit Spannbettbezug verdeckt – immerhin. Bis auf wenige Ausnahmen verbrachte Nikolaus die Nächte der nächsten dreizehn Jahre dort. Seine Nackenschmerzen nahmen zu, aber auch das war auszuhalten.
Das lichtlose Lämpchen in der Hand, näherte sich Nikolaus seinem Verlies. Ein weiteres Ritual Annedores bestand darin, dass sie ihm nach und nach all das, was sie einst miteinander verbunden hatte, sämtliche Geschenke, alle gemeinsam angeschafften Haushaltsdinge, jedwedes Ding, das sie auf welche Weise auch immer an den ohne Angabe von Gründen Verstoßenen erinnern mochte, auf die Treppe stellte: grundsätzlich auf die zweite Stufe von oben, Stück für Stück Demütigungen, Kennzeichen einer mitleidlosen, irreversiblen Austreibung.
Im Souterrainzimmerchen angekommen, drehte sich Nikolaus ein paarmal im Kreis. Er wusste durchaus nicht mehr, was er hier unten beginnen sollte. Der Schock, wiewohl vorbereitet durch vierzehn Jahre, wirkte sich aus; Nikolaus ruderte mit den Armen, ohne Halt zu finden. Dann schnürte er durch den dunklen Gang auf sein Privatklo, setzte sich und vergaß seine Notdurft zu entrichten. Er zog ab, schlich wieder zurück ins Zimmerchen, nahm die Jacke vom Stuhl und den Schlüssel vom Tisch. Als er sein Handy liegen sah, kam ihm der Gedanke, es gegen die Wand zu werfen. Doch er fürchtete Annedores Gezänk und den Schreck, den Nikolaus davontragen könnte. Also ließ er’s liegen und verriegelte die Tür mittels einer Spezialvorrichtung, die er einst selbst gebastelt hatte.
Der Weg nach oben, zur Haustür, war nur von dem einzigen Gedanken bestimmt: Niemand möge ihn jetzt ansprechen, auf keinen Fall Annedore, aber auch Valentin nicht, dessen Ignoranz ihm den größten Schmerz bereitet hatte. Vorsichtig, wie ein Tierpräparator ein totes Vögelchen, berührte er den Knauf der Haustür. Es klickte. Zu laut.
Bevor Nikolaus in die Nacht hinaustrat, hörte er es von drinnen gellen: „Haust du jetzt ab oder was?“
Nikolaus behielt den Schlüssel in der Hand, schlenkerte ihn unbewusst wie ein Spielzeug. In der anderen Hand trug er die Jacke. Es war die laueste Nacht seit dem letzten September, zeitige Wärme war schon vor Tagen den Rheingraben hinaufgeweht, hielt sich