Tot am Ring. Wolfgang Wiesmann
das Opfer.
Rolf blieb wie paralysiert stehen und ließ das Gesamtbild auf sich wirken. Er hatte schon viele Mordopfer gesehen, aber dieser Anblick berührte ihn besonders. Lag es an der jungen Frau? Der Auffindsituation? Er wusste es nicht.
Die Leiche hing in einem ausgehöhlten Baum. Um ihren Hals und an den Händen und Füßen war ein Stahldrahtseil geschlungen. Rolf sah, dass sie mit dem Seil in der Baumhöhle fixiert worden war. Der leblose Körper hing im unteren Teil des Baumes. Er bildete somit optisch eine Einheit, so, als wäre sie schon immer mit dem Baum verwachsen gewesen.
Rolf flüsterte: „Das wirkt wie ein Kunstwerk. Eine Installation.“
Er betrachtete die junge Frau genau. Sie hatte rot gefärbte, lange, glatte Haare, die bis zur Hüfte reichten. Eine große, silberne Creole schmückte ihr rechtes Ohr. Das linke Ohrläppchen war eingerissen und blutig. Bekleidet war sie mit einem petrolfarbenen Spitzen-T-Shirt, das an einigen Stellen zerrissen war. Der kurze Minirock war zerknittert und verschoben. Die farblich auf das T-Shirt abgestimmte Strumpfhose löchrig. Ein in Silber gefasster Mondstein baumelte an einer langen Kette. Schwarze, hochhackige Stiefeletten zierten ihre Füße. Am rechten Zeigefinger trug sie einen auffälligen Silberring. Den Mittelfinger der linken Hand schmückte ein Mondsteinring. Hunderte von Fliegen flogen um das Opfer herum. Es stank bestialisch.
Der Gerichtsmediziner sprach ihn an. Rolf zuckte zusammen. „Solche Seile benutzen Künstler zum Aufhängen ihrer Arbeiten. Schauen Sie, Sahner, zum krönenden Abschluss bespritzte man das Opfer mit Farbe. Dieser Schleier bedeckte ihr Gesicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde sie vor dem Aufhängen erstickt.“ Dr. Brehming öffnete die Augenlider der Toten.
„Sehen Sie, diese Punktblutungen im Augenweiß weisen darauf hin, dass ein dauerhafter Druck auf das Gesicht ausgeübt wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde sie mit einem Kissen oder einer Decke erstickt. Fundort ist nicht gleich Tatort, das ist jetzt schon deutlich. Schauen Sie sich mal die Fingernägel an. Darunter klebt Blut, das Opfer muss sich beim Täter festgekrallt haben. Es hat ein Todeskampf stattgefunden. Möglicherweise finden wir Fremd-DNA. Warten wir es ab.“
„Das hat was ausgesprochen Künstlerisches“, warf jetzt auch Ulf ein.
„Oh Mann, Karla kennt sich in dem Metier bestens aus. Die könnten wir jetzt gut hier gebrauchen“, bemerkte Pfeffer.
„Wir schaffen das auch ohne sie“, beruhigte Rolf ihn. „Karla soll auf keinen Fall in ihrem Urlaub gestört werden.“
„Sicher, Chef“, antworteten Ulf und Klaus wie aus einem Munde.
„Herr Schmidt hat wahrscheinlich recht. Der Tod wurde zelebriert“, antwortete Walter Breming auf Ulfs Einwurf.
„Was steckt dahinter? Was hat sich der Täter dabei gedacht? Welches Motiv hatte er oder auch sie?“, sinnierte Pfeffer.
Rolf bemerkte: „Das Opfer ist auffällig chic gekleidet. Was meint ihr? Als wäre sie mitten aus einer Party herausgerissen worden.“
„Dann diese Inszenierung der Leichenschau. Und die Farbspritzer. Was hat das zu bedeuten?“, äußerte sich Pfeffer.
„Auf jeden Fall will uns der Täter damit etwas sagen. Zumal die Leiche am Hohenstein ähnlich drapiert wurde. Genaueres weiß ich aber erst nach der Obduktion. Vor allen Dingen dann, wenn wir auch das zweite Opfer auf dem Tisch liegen haben. Ich vermute, dass es sich um einen kräftigen Menschen handelt. Wie hier die Leiche aufgehängt wurde, war es für den Täter auf jeden Fall kein einfaches Unterfangen. Vermutlich waren es sogar zwei. Der Tod ist wahrscheinlich in der Nacht von Sonntag auf Montag eingetreten. Aufgehängt wurde die Frau erst nach ihrem Tod. An den Händen und Füßen sind keine Leichenflecken zu sehen.“
„Was meinen Sie Doktor? Haben sich der oder die Täter während des Unwetters in den Wald gewagt?“
„Kann ich noch nicht genau sagen, Herr Sahner. Vielleicht haben sie genau in dieser Zeit das Opfer aufgehängt, weil sie unbeobachtet handeln konnten.“
„Wie alt ist sie?“, wollte Klaus wissen.
„Ich schätze sie auf Mitte bis Ende zwanzig“, antwortete Walter Breming.
Rolf wandte sich an Ulf Schmidt. „Gibt es schon Spuren?“
„Bisher wenig, aber wir sind dabei! Reifenspuren, Schleifspuren, zerbrochene Äste und so weiter, aber sonst noch nichts von Belang. Keine Papiere, kein Handy, keine Handtasche oder Stoffreste. Wir suchen weiter. Ich verspreche euch, wir nehmen jeden Baum, Strauch und alles, was der Laden hergibt, noch genauer unter die Lupe.“
„Okay, ich fahre jetzt rüber zum Hohenstein. Habt ihr von dort schon etwas gehört, was zum Abgleich wichtig ist?“
Klaus Pfeffer schüttelte den Kopf.
„Lotter hat noch keinen Laut gegeben.“
„Die lahme Ente“, schimpfte Rolf und machte sich auf den Weg.
5. Strandwanderung
– Föhr; Mittwoch –
Karla verspürte Hunger. Sie zog sich warm an und setzte ihren Rucksack auf. Vom Klaf aus stapfte sie durch den Sand in Richtung Deich, lief zum Strand runter und dem Sonnenuntergang entgegen.
Sie dachte an das letzte Jahr. Dirk und sie hatten oft in dem Strandlokal Sehliebe Kaffee getrunken und auf der Sonnenterrasse gesessen. Es gab dort vorzügliches Essen und Kuchen. ‚Genau da gehe ich jetzt hin.‘
Die Kommissarin beschleunigte ihre Schritte. Der kräftige Wind blies ihr ins Gesicht. Und wieder kam ihr der letzte Urlaub mit Dirk in den Sinn. Es war wunderschön gewesen, doch jetzt freute sie sich auf das Alleinsein.
Nach so vielen Jahren Ehe und anstrengender Arbeit war das Zusammenleben nicht immer einfach gewesen. Auf der einen Seite war es gut, dass ihre Kinder Arne und Luisa selbstständig waren und ihren eigenen Weg gingen. Aber seitdem war auch eine gewisse Leere entstanden, damit musste man in einer Partnerschaft erst mal zurechtkommen.
Karla sog die frische Seeluft ein und genoss es, wie der Wind an ihr riss. ‚Rolf hat recht‘, dachte sie. ‚Ich mache hier Urlaub. Die Arbeit läuft nicht weg, aber mein Leben ...‘ Sie durfte nicht darüber nachdenken, in was für lebensbedrohliche Situationen sie sich schon gebracht hatte, wie viele Straftaten sie aufgeklärt hatte. Im Stillen sprach sie einen Toast auf ihre Kollegen. ‚Also Jungs, auf euch! Ihr werdet es schon machen.‘
Schnellen Schrittes lief Karla durch den Sand. Es war anstrengend, aber sie mochte das Knirschen unter ihren Füßen. Schließlich erreichte sie die Sehliebe und stieg die Holztreppe zur Terrasse hoch. Sie blickte in Richtung Meer. Der Himmel war blutrot, die Sonne versank wie ein dicker Feuerball im Meer.
Karla öffnete die Tür. Es war nicht viel los und sie genoss einfach die Ruhe. Im Restaurant spielten sie passend zum Sonnenuntergang entspannende klassische Musik.
‚Jetzt bin ich angekommen.‘ Zufrieden lehnte sie sich zurück.
6. Telefongespräch
– Föhr, Wyk; Mittwoch –
Heinz stieg aus dem VW-Campingbus. Er hatte auf dem Parkplatz am Fähranleger geparkt und sich ein Schläfchen gegönnt. In dieser Zeit hatte er sein Handy an der Solar-Powerbank aufgeladen. Davon hatte er sich mehrere gekauft, alle waren leistungsstark. Sobald er das Handy einschaltete, piepste es unaufhörlich. Neun Anrufe in Abwesenheit, ebenso viele SMS-Nachrichten.
„Mist, Bernd!“, zeterte er. „Verdammt, wie lange habe ich geschlafen? Es ist ja schon Nachmittag. Ich hätte gestern Abend nach der Ankunft nicht noch eine Flasche Rotwein saufen sollen“, schimpfte er.
‚Ich muss schon ganz schön betrunken gewesen sein, dass ich nicht mehr an Bernd gedacht habe‘ Er rief ihn sofort an.
„Du Blödmann, wo steckst du? Schön, dass du dich endlich meldest“, hörte er Bernd brüllen. „Kurz vor Dagebüll bin ich in eine Polizeikontrolle gekommen. Ich dachte, dass