Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. Selma Lagerlöf
der Haustür lag, hüpfte ein Sperling hin und her. Kaum erblickte dieser den Jungen, da rief er auch schon: „Seht doch, Nils, der Gänsehirt! Seht den kleinen Däumling! Seht doch Nils Holgersson Däumling!“
Sogleich wendeten sich die Gänse und die Hühner nach dem Jungen um, und es entstand ein entsetzliches Geschrei: „Kikerikiki!“ krähte der Hahn. „Das geschieht ihm recht! Kikerikiki! Er hat mich am Kamme gezogen!“
„Ga, ga, ga, gag, das geschieht ihm recht!“ riefen die Hühner, und sie fuhren ohne Aufhören damit fort.
Die Gänse sammelten sich in einen Haufen, steckten die Köpfe zusammen und fragten: „Wer hat das getan? Wer hat das getan?“
Aber das merkwürdige daran war, daß der Junge verstand, was sie sagten. Er war so verwundert darüber, daß er auf der Türschwelle stehen blieb und zuhörte. „Das kommt gewiß daher, daß ich in ein Wichtelmännchen verwandelt bin,“ sagte er, „deshalb verstehe ich die Tiersprache.“
Es war ihm unausstehlich, daß die Hühner mit ihrem ewigen „das geschieht ihm recht“ gar nicht aufhören wollten. Er warf einen Stein nach ihnen und rief: „Haltet den Schnabel, Lumpenpack!“
Aber er hatte eines vergessen. Er war jetzt nicht mehr so groß, daß die Hühner sich vor ihm hätten fürchten müssen. Die ganze Hühnerschar stürzte auf ihn zu, pflanzte sich um ihn herum auf und schrie: „Ga, ga, ga, gag! Es geschieht dir recht! Ga, ga, ga, gag! Es geschieht dir recht!“
Der Junge versuchte ihnen zu entwischen; aber die Hühner sprangen hinter ihm her und schrien so laut, daß ihm beinahe Hören und Sehen verging. Er wäre ihnen auch wohl kaum entgangen, wenn nicht die Hauskatze daher gekommen wäre. Sobald die Hühner die Katze sahen, verstummten sie und schienen an nichts andres mehr zu denken, als fleißig in der Erde nach Würmern zu scharren.
Der Junge lief schnell auf die Katze zu. „Liebe Mietze,“ sagte er, „du kennst doch alle Winkel und Schlupflöcher hier auf dem Hofe? Sei lieb und teile mir mit, wo ich das Wichtelmännchen finden kann.“
Die Katze gab ihm nicht sogleich Antwort. Sie setzte sich nieder, legte den Schwanz zierlich in einem Ring um die Vorderpfoten und sah den Jungen an. Es war eine große, schwarze Katze mit einem weißen Fleck auf der Brust. Ihr Fell war glatt und glänzte im Sonnenschein. Sie hatte die Krallen eingezogen, ihre Augen waren gleichmäßig grau mit nur einem kleinen, schmalen Schlitz in der Mitte. Die Katze sah durch und durch gutmütig aus.
„Ich weiß allerdings, wo das Wichtelmännchen wohnt,“ sagte sie mit freundlicher Stimme. „Aber damit ist nicht gesagt, daß ich es dir sagen werde.“
„Liebe, liebe Mietze, du mußt mir helfen,“ sagte der Junge. „Siehst du nicht, wie es mich verzaubert hat?“
Die Katze öffnete ihre Augen ein klein wenig, so daß die grüne Bosheit herausschien. Sie spann und schnurrte vor Vergnügen, ehe sie antwortete. „Soll ich dir vielleicht jetzt helfen, weil du mich so oft am Schwanz gezogen hast?“ sagte sie schließlich.
Da wurde der Junge böse; er vergaß ganz, wie klein und ohnmächtig er jetzt war. „Ich kann dich ja noch einmal am Schwanz ziehen, jawohl,“ sagte er und sprang auf die Katze los.
In demselben Augenblick aber war diese so verändert, daß der Junge sie kaum noch für dasselbe Tier halten konnte. Sie hatte den Rücken gekrümmt – die Beine waren länger geworden, sie kratzte sich mit den Krallen im Nacken, der Schwanz war kurz und dick, die Ohren legten sich zurück, das Maul fauchte, und die Augen standen weit offen und funkelten in roter Glut.
Der Junge wollte sich von einer Katze nicht erschrecken lassen und trat noch einen Schritt näher. Aber da machte die Katze einen Satz, ging gerade auf den Jungen los, warf ihn um und stellte ihm mit weitaufgesperrtem Maul die Vorderbeine auf die Brust.
Der Junge fühlte, wie ihm ihre Klauen durch die Weste und das Hemd in die Haut eindrangen und wie die scharfen Eckzähne ihm den Hals kitzelten. Da begann er aus Leibeskräften um Hilfe zu schreien.
Aber es kam niemand, und er glaubte schon sicher, seine letzte Stunde hätte geschlagen. Da fühlte er, daß die Katze die Krallen einzog und seinen Hals losließ.
„So,“ sagte sie, „jetzt will ich es genug sein lassen. Für diesmal magst du meiner guten Hausmutter zuliebe mit der Angst davonkommen. Ich wollte nur, daß du wüßtest, wer von uns beiden der Stärkere ist.“
Damit ging die Katze ihrer Wege und sah eben so sanft und fromm aus wie vorher, als sie gekommen war. Der Junge schämte sich so, daß er kein Wort sagen konnte; er lief deshalb eiligst in den Kuhstall hinein, das Wichtelmännchen zu suchen.
Es waren nur drei Kühe im Stalle. Aber als der Junge eintrat, begannen sie alle zu brüllen und einen solchen Spektakel zu machen, daß man hätte meinen können, es seien wenigstens dreißig.
„Muh, muh, muh!“ brüllte Majros. „Es ist doch gut, daß es noch eine Gerechtigkeit auf der Welt gibt.“
„Muh, muh, muh!“ riefen alle drei auf einmal. Der Junge konnte nicht verstehen, was sie sagten, so wild schrieen sie durcheinander.
Er wollte nach dem Wichtelmännchen fragen, aber er konnte sich kein Gehör verschaffen, weil die Kühe in vollem Aufruhr waren. Sie betrugen sich genau so, als wäre ein fremder Hund zu ihnen hereingebracht worden, schlugen mit den Hinterfüßen aus, rasselten an ihren Halsketten, wendeten die Köpfe rückwärts und stießen mit den Hörnern.
„Komm nur her!“ sagte Majros. „Dann geb' ich dir einen Stoß, den du nicht so bald wieder vergessen wirst.“
„Komm her!“ sagte Gull-Lilja. „Dann lasse ich dich auf meinen Hörnern reiten.“
„Komm nur, komm, dann sollst du erfahren, wie es mir geschmeckt hat, wenn du mir deinen Holzschuh auf den Rücken warfst, was du immer tatest!“ sagte Stern.
„Ja, komm nur her, dann werde ich dich für die Wespen bezahlen, die du mir ins Ohr gesetzt hast!“ schrie Gull-Lilja.
Majros war die älteste und klügste von den dreien, und sie war am zornigsten. „Komm nur,“ sagte sie, „daß ich dich für die vielen Male bezahlen kann, wo du den Melkschemel unter deiner Mutter weggezogen hast, sowie für jedes Mal, wo du ihr einen Fuß stelltest, wenn sie mit dem Melkeimer daherkam, und für alle Tränen, die sie hier über dich geweint hat.“
Der Junge wollte ihnen sagen, wie sehr er sein schlechtes Betragen bereue und daß er von jetzt an immer artig sein werde, wenn sie ihm nur sagten, wo das Wichtelmännchen zu finden wäre. Aber die Kühe hörten gar nicht auf ihn; sie brüllten so laut, daß er Angst bekam, es könne sich schließlich eine von ihnen losreißen, und so hielt er es fürs beste, sich aus dem Kuhstalle davonzuschleichen.
Als der Junge wieder auf den Hof kam, war er ganz mutlos. Er sah ein, daß ihm auf dem ganzen Hofe bei seiner Suche nach dem Wichtelmännchen niemand beistehen wollte. Und wahrscheinlich würde ihm auch das Wichtelmännchen, selbst wenn er es fände, wenig helfen.
Er kroch auf das breite Steinmäuerchen, das das ganze Gütchen umgab und das mit Weißdorn und Brombeerranken überwachsen war. Dort ließ er sich nieder, zu überlegen, wie es werden solle, wenn er seine menschliche Gestalt nicht mehr erlangte. Wenn nun Vater und Mutter von der Kirche heimkämen, würden sie sich baß verwundern. Ja, im ganzen Lande würde man sich verwundern, und die Leute würden daherkommen von Ost-Vemmenhög und von Torp und von Skurup, ja, aus dem ganzen Vemmenhöger Bezirk würden sie zusammenkommen, ihn anzuschauen. Und wer weiß, vielleicht würden die Eltern ihn sogar mitnehmen, ihn auf den Märkten zu zeigen.
Ach, es war zu schrecklich, nur daran zu denken! Da wäre es ihm schließlich noch am liebsten, wenn ihn nur kein Mensch mehr zu sehen bekäme!
Ach, wie unglücklich war er doch! Auf der weiten Welt war gewiß noch nie ein Mensch so unglücklich gewesen wie er. Er war kein Mensch