Mein großes Geheimnis. Buzz Bissinger

Mein großes Geheimnis - Buzz Bissinger


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ich die Garage aufräumte, aufgefallen, dass es dort ist.

      Ich denke über viele Aspekte meines Lebens nach, das zu ungleichen Teilen wundersam und unglaublich absurd verlaufen ist. Über meine Beziehung zu meinen Kindern und Stiefkindern, von der ich gehofft hätte, dass sie enger werden würde, jetzt, da ich Caitlyn bin, aber das ist nicht geschehen. Ich überlege, ob ich die endgültige, geschlechtsangleichende Operation machen lassen sollte oder nicht. Mir gehen zudem all die Themen durch den Kopf, mit denen sich die Transgender-Community beschäftigt, und ich überlege, auf welche Weise ich sie unterstützen kann; das ist inzwischen eine geradezu heilige Aufgabe für mich. Zwar habe ich immer noch Angst vor der Einsamkeit, aber ich weiß auch, dass ich glücklicher und ausgefüllter bin als je zuvor in meinem Leben.

      Das Akkordeon ist nur ein Instrument, das Platz wegnimmt, ein Relikt aus der lange zurückliegenden Vergangenheit. Manchmal denke ich, wenn ich das Rätsel lösen kann, wieso ich es immer noch habe, dann käme ich auch dem Rätsel meines Lebens einen Schritt näher und würde mir endlich klar darüber, wer ich bin: ein Goldmedaillengewinner und Weltrekordler, der nach seinem Sieg kein Interesse mehr an irgendwelchen Wettkämpfen hatte. Ein Betrüger gegenüber seinem eigenen Ich. Eine schillernde Person des öffentlichen Lebens, privat nur ein Schatten. Ein guter Vater für seine Stiefkinder, der jedoch zeitweise kaum noch Kontakt zum eigenen Nachwuchs aus seinen beiden ersten Ehen hatte. Selbstbewusst und doch jeder Konfrontation aus dem Wege gehend. Gern unter Menschen und doch einsam. Offen und doch ohne Empathie. Äußerlich mit sich im Reinen, innerlich ständig im Widerstreit. Jemand, der immer gemocht werden wollte, aber nie darauf vertraute, dass es jemand tat – weil es so viele Zeiten gab, in denen ich mich selbst nicht leiden konnte.

      All diese unterschiedlichen Gefühle empfand ich zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich stark. Einige Tage waren besser als andere. Es gab Phasen, manche davon sogar herrlich lang, in denen ich nicht ständig meine Seele auf den Prüfstein stellte oder dachte, diese Zerrissenheit wäre nur vorübergehend oder könnte vielleicht geheilt werden, mit zwei Aspirin und einem Glas Wasser, einer Knoblauchzehe um den Hals und einer Hasenpfote unter dem Kopfkissen.

      Lange Zeit verstand ich nicht, was wirklich geschah. Ich hatte keinerlei Referenzpunkte, nichts Vergleichbares. Der Ausdruck Transgender, der heute so geläufig ist, hatte in der Welt, in der ich aufwuchs, so viel Bedeutung wie Facebook oder Twitter oder Instagram. In den USA sprach man erstmals 1974 von gender dysphoria – Genderdysphorie, Geschlechtsidentitätsstörung.

      Amerika, 1949. Vier Jahre nach dem Abwurf der Atombombe, Harry Truman ist noch Präsident. Der VW-Käfer kommt in den USA auf den Markt, in Los Angeles fällt so viel Schnee wie nie zuvor, das Musical South Pacific von Rodgers und Hammerstein läuft am Broadway an, und Howard Unruh geht als Massenmörder in die US-Geschichte ein, als er in Camden, New Jersey dreizehn seiner Nachbarn mit einer Luger erschießt, die er als Souvenir aus dem Krieg mitgebracht hat.

      Bruce Springsteen und Billy Joel kommen zur Welt. Ebenso Meryl Streep und Sissy Spacek. Und dann auch ich, am 28. Oktober 1949, an dem Tag, als beim Absturz eines Air-France-Jets über den Azoren alle Insassen sterben. Aber zugleich ist es auch der 63. Geburtstag der Freiheitsstatue.

      Das ist typisch für den ewigen Widerstreit in meinem Leben.

      Ich wuchs in den 1950er Jahren auf, dem amerikanischen Zeitalter des Automobils, des Ausbaus der Interstate-Verbindungen unter Eisenhower, von McCarthys Kommunistenhatz, in der Zeit von Rauchende Colts, Perry Mason, Bonanza und vielen anderen Serien, in denen alle wichtigen Rollen von weißen Schauspielern übernommen wurden. Es saß kein einziger Afroamerikaner im Senat und mit Margaret Chase Smith aus Maine nur eine einzige Frau.

      In meiner Jugend kannte ich keinen einzigen Menschen, der schwul oder lesbisch war, oder vielmehr, ich kannte niemanden, der sich öffentlich dazu bekannte, weil die damalige Gesellschaft das einfach nicht zuließ. Heute ist das zwar besser geworden, aber an viel zu vielen Orten existiert diese repressive Atmosphäre immer noch und macht es all denen schwer, die von der so genannten Norm abweichen – wobei diese Norm für mich nichts weiter ist als eine willkürliche Vorverurteilung durch ignorante und hasserfüllte Leute.

      Etwa ein Jahr nach meiner Geburt wurde vom US-Senat eine Untersuchung zu so genannten „Homosexuellen und anderen sexuell Perversen“ in Auftrag gegeben. Zu ihren Ergebnissen, soweit man sie heute noch wiedergeben kann, zählte beispielsweise:

      Die zuständigen Behörden sind sich einig, dass die meisten sexuell Abartigen gut auf psychiatrische Behandlungen ansprechen und geheilt werden können, sofern die Betreffenden den aufrichtigen Wunsch dazu verspüren. Allerdings haben viele bekennende Homosexuelle nicht wirklich das Bedürfnis, ihr bisheriges Leben aufzugeben, und in solchen Fällen ist eine Heilung schwierig, wenn nicht unmöglich …

      Häufig versuchen diese Perversen, normale Bürger zu ihren abartigen Praktiken zu verleiten …

      Die fehlende emotionale Stabilität, die den meisten Perversen eigen ist, und ihre moralische Schwäche macht sie besonders empfänglich für die Verführungskünste ausländischer Spione. Den Geheimdiensten ist gut bekannt, dass Perverse bei Befragungen durch einen geschickten Agenten sehr nachgiebig sind und sich selten weigern, von sich selbst zu erzählen.

      Wir können also festhalten: Das Amerika, in dem ich aufwuchs, war nicht gerade ein besonders erleuchtetes Zeitalter. Heute frage ich mich, inwiefern dieses Umfeld meine konservative Einstellung beeinflusst hat, denn dass es das tat, steht für mich fest. Aber es war auch eine Zeit der Fülle und des Konsums – wenn man weiß war. Überall entstanden neue Vororte, Zehntausende erschwinglicher Häuser wurden gebaut, und für die aufstrebende Mittelklasse ging es immer weiter nach oben. Amerika war ein sicherer, guter Ort – wie gesagt, wenn man weiß war – und ich fühlte mich in diesem Schoß geborgen, während ich mit meinen Eltern und Geschwistern in Westchester County im Staat New York und im Osten von Connecticut aufwuchs.

      Mein Vater William (Bill) Jenner hatte einen hintersinnigen Humor und einen vordergründigen Bostoner Akzent und war ein typischer Vertreter der Generation, die schon die Große Depression und den Zweiten Weltkrieg mitgemacht hatte. Er traf meine Mutter Esther im Frühjahr 1942 auf einer Rollschuhbahn in White Plains, New York – kurz nachdem sie aus dem Mittleren Westen an die Ostküste gezogen war. Er war ein hervorragender Rollschuhläufer und hatte ein Talent für viele verschiedene Sportarten. Wenn er sich etwas Neues beibringen wollte, gelang ihm das meist sehr schnell – eine Eigenschaft, die er mir vererbt hat. Meine Mutter hingegen war noch unsicher auf ihren Rollschuhen, woran sie sich mit der für sie typischen Unverblümtheit erinnert:

      „Dürfte ich diese nächste Runde mit dir fahren?“

      „Von mir aus – aber auf eigene Gefahr.“

      Esther war aus Ohio und hatte einen großen Teil ihrer Jugend auf einer dreißig Hektar großen Farm verbracht, die von der Kuppe eines sanft geschwungenen Hügels auf den Ohio River hinunterblickte. Ihr Vater war Porträtfotograf und besaß die Fähigkeit, sich auf Dinge, die ihn interessierten, mit unglaublicher Entschlossenheit zu konzentrieren – eine Eigenschaft, die ich wiederum von ihm geerbt habe, und die mir beim Training für den Zehnkampf ausgesprochen gute Dienste leistete. Er baute das Haus für die Familie, bescheiden und solide. In seiner Freizeit betätigte er sich als Geologe und Astronom und baute Teleskope. Er liebte es, knifflige Dinge zu basteln und mechanische Experimente zu machen. Genau wie ich.

      Bill war in St. John’s in Neufundland geboren worden, dann mit seiner Familie nach Somerville in Massachusetts und später nach Westborough gezogen. Als er noch klein war, wütete ein schrecklicher Hurrikan über Neuengland und entwurzelte viele tausend Bäume. Die Stämme wurden im Wasser der nahen Seen gelagert, und Bills Vater leitete eine mobile Sägemühle, die sich von einem Gewässer zum anderen verlagern ließ. Dort arbeitete auch Bill noch ein Jahr nach der High School, bevor er Ende der Dreißigerjahre nach Tarrytown in Westchester County zog.

      Esther fand Bill unwiderstehlich gutaussehend, und offenbar ging es Bill umgekehrt genauso (ja, Eitelkeit liegt in der Familie). Er arbeitete für seinen Bruder, der Bäume fällte und beschnitt, und hatte eine fröhliche Natur, die Esther einfach ansteckend fand. Sie verliebten sich schnell, wie das damals so oft geschah – vielleicht, weil ihnen bewusst war, dass ihnen


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