Aristoteles: Nikomachische Ethik. Aristoteles
ja endlose Aufgabe, alle einzelnen Fälle zu unterscheiden, und es wird genügen, wenn wir nur im allgemeinen und im Umriß darüber sprechen.
Da also, wie von den eigenen Unglücksfällen nur ein Teil von Belang und Gewicht ist, andere aber unbedeutender erscheinen, es sich grade so mit den Schicksalen aller Freunde verhält, und da ferner der Unterschied, ob Unfälle Lebende oder Verstorbene treffen, ungleich größer ist als der, ob gesetzwidrige und furchtbare Handlungen in den Tragödien vorkommen oder in der Wirklichkeit, so muß freilich auch dieser Unterschied in Rechnung gebracht werden, aber wohl noch mehr der Umstand, daß man bezüglich der Verstorbenen im Ungewissen darüber ist, ob (1101b) sie an den Gütern und Übeln dieses Lebens noch Anteil haben. Denn aus den angeführten Gründen ist wohl, wenn auch etwas Gutes oder Schlimmes die Todten noch berührt, dasselbe nur etwas Schwaches und Geringes entweder an sich oder für sie, oder doch nur von der Bedeutung und Beschaffenheit, daß es sie nicht glücklich macht, wenn sie es nicht sind, noch, wenn sie es sind, sie ihrer Glückseligkeit beraubt. Es mochte nun das Glück wie das Unglück ihrer Freunde für die Hingeschiedenen wirklich von einiger Bedeutung sein, doch nur in der Art und so weit, daß es weder die Glückseligen unselig machen, noch sonst ihren Zustand umgestalten kann32.
Zwölftes Kapitel.
Nachdem wir dies festgestellt haben, wollen wir zusehen, ob die Glückseligkeit zu den des Lobes oder vielmehr zu den der Ehre würdigen Dingen gehört. Denn zu den bloßen Vermögen gehört sie offenbar nicht.
Jedes Lobenswerte scheint darum gelobt zu werden, weil es eine bestimmte Qualität hat und sich zu etwas in bestimmter Weise verhält. Wir loben den Gerechten, den Starkmütigen und überhaupt den Tugendhaften und die Tugend, wegen der Handlungen und Werke; ebenso den Starken, den Schnellfüßigen u. s. w., weil er eine bestimmte Qualität besitzt und sich zu etwas gutem und trefflichem in bestimmter Weise verhält. Das erhellt auch aus dem Lobe, das wir den Göttern spenden: es erschiene lächerlich, wenn wie es von unseren Verhältnissen hernähmen, und dieses darum, weil das Lob, wie wir gesagt haben, um einer bestimmten Beziehung willen gespendet wird. Wenn aber das Lob auf solches geht, so leuchtet ein, daß es für das Beste kein Lob gibt, sondern etwas Größeres und Besseres, wie man denn auch sieht. Wir preisen die Götter glücklich und selig, und ebenso preisen wie die göttlichsten der Menschen glücklich. Ebenso die besten der Güter: Niemand lobt die Glückseligkeit so wie die Gerechtigkeit, sondern man preiset sie wie etwas Göttlicheres und Besseres.
Auch Eudoxus scheint über die Güter sehr richtig zu urteilen, wenn er der Lust den höchsten Preis zuerkennt; denn daß sie, obwohl zu den Gütern gehörig, nicht gelobt werde, das sei, meinte er, ein Beweis, daß sie besser ist als das Lobenswerte, und solches sei Gott und das Gute. Das Lob nämlich gebührt der Tugend, weil man durch sie fähig wird, das Gute zu tun, Preis aber den Werken, leiblichen sowohl als geistigen.
Doch dieses genauer zu bestimmen, gehört wohl eher in die Theorie der Lobreden. Für uns erhellt aus dem (1102a) Gesagten, daß die Glückseligkeit zu den verehrungswürdigen und vollkommenen Dingen zählt. Und das wohl auch deswegen, weil sie Prinzip ist. Denn um des Prinzips willen tun wir alle alles übrige, das Prinzip aber und der Grund des Guten gilt uns für etwas Ehrwürdiges und Göttliches.
Dreizehntes Kapitel.
Da aber die Glückseligkeit eine der vollendeten Tugend gemäße Tätigkeit der Seele ist, so haben wir die Tugend zum Gegenstande unserer Untersuchung zu machen, da wir dann auch die Glückseligkeit besser werden verstehen lernen. Um die Tugend scheint auch der wahre Staatsmann sich am meisten zu bemühen, da er die Bürger tugendhaft und den Gesetzen gehorsam machen will. Ein Beispiel dafür haben wir an den Gesetzgebern der Kreter und Lacedämonier und wohl noch an einigen anderen dieser Art. Wenn sonach diese Betrachtung zur Staatskunst gehört, so bleibt unsere Untersuchung zweifellos dem eingangsbezeichneten Plane treu. Die Tugend aber, der unsere Betrachtung gilt, kann selbstverständlich nur die menschliche sein. Wir wollten ja auch nur das menschliche Gut und die menschliche Glückseligkeit zu ermitteln suchen.
Unter menschlicher Tugend verstehen wir aber nicht Tüchtigkeit des Leibes, sondern solche der Seele, wie wir ja auch unter der Glückseligkeit eine Tätigkeit der Seele verstehen. Ist aber dem also, so muß der Staatsmann und der Lehrer der Staatswissenschaft bis zu einem gewissen Grade mit der Seelenkunde vertraut sein, grade wie wer die Augen oder sonst einen Leibesteil heilen will, deren Beschaffenheit kennen muß, und zwar jener noch vielmehr als dieser, weil die Staatskunst viel würdiger und besser ist als die Heilkunst. In der Tat machen sich die tüchtigen Ärzte mit der Untersuchung des Körpers sehr viel zu schaffen. So muß nun auch der Lehrer der Staatskunst die Seele zum Gegenstande seiner Betrachtung machen, aber immer nur um der angegebenen Zwecke willen und soweit, als es für diese Zwecke genügt; noch genauer darauf einzugehen, ist wohl für die gestellte Aufgabe der Mühe zu viel.
Einiges aus der Seelenlehre ist nun in den exoterischen33 Schriften ausreichend behandelt und mag hier Verwendung finden. So, daß die Seele einen unvernünftigen und einen vernünftigen Teil hat. Ob diese beiden Teile sich so von einander unterscheiden wie die Teile des Körpers und alles Teilbare, oder ob sie ihrer Natur nach untrennbar und nur dem Begriffe nach zwei sind wie die innere und äußere Seite der Kreisperipherie, ist für unseren Zweck gleichgültig34. In dem unvernünftigen Vermögen ist wieder ein Teil wie ein allem Lebendigen Gemeinsames, nämlich das vegetative Vermögen, das Prinzip der Ernährung und des Wachstums. Denn ein solches Seelenvermögen ist wohl in (1102b) allem, was sich ernährt, schon für die Embryonen anzunehmen und ebenso für die ausgebildeten Individuen, und zwar mit besserem Fug und Grunde als irgend ein anderes. Dasselbe hat nun offenbar eine generelle, nicht die spezifisch menschliche Vollkommenheit. Denn dieser Teil und dieses Vermögen scheint ganz besonders im Schlafe tätig zu sein; im Schlafe aber sind der Gute und der Schlechte am wenigsten zu erkennen. Daher auch das Sprüchwort: Zwischen den Glücklichen und den Unglücklichen ist ihr halbes Leben lang kein Unterschied. Dies ist auch nicht auffallend. Denn der Schlaf ist eine Untätigkeit der Seele, insofern sie tugendhaft und schlecht genannt wird, nur daß manche von den im wachen Zustande vorausgegangenen Bewegungen sich allmälig im Schlafe einigermaßen zur Geltung bringen und in diesem Anbetracht die Träume tugendhafter Menschen besser werden als die beliebiger Leute.
Doch genug hiervon und lassen wir das vegetative Vermögen, da es von Natur an der menschlichen Tugend keinen Teil hat. Es scheint aber auch ein anderer Teil der Seele ohne Vernunft zu sein, jedoch in gewisser Beziehung an der Vernunft teil zu nehmen. Wir loben nämlich an dem Enthaltsamen und Unenthaltsamen die Vernunft und den vernünftigen Seelenteil. Denn er ermahnt richtig und zum Guten. Aber die Erfahrung lehrt, daß den Genannten noch ein anderes Prinzip außer der Vernunft eingepflanzt ist, das dieser widerstrebt und widerstreitet. Wie gelähmte Leibesteile, wenn man sie nach rechts bewegen will, umgekehrt sich nach links drehen, so und nicht anders verhält es sich mit der Seele: die Begierden des Unenthaltsamen gehen auf das Gegenteil von dem, was die Vernunft gebietet, nur daß man die Verkehrung am Leibe sieht, dagegen an der Seele nicht. Trotzdem mögen wir überzeugt sein, daß auch in der Seele etwas außer der Vernunft vorhanden ist, was dieser entgegensteht und widerstreitet. In wie weit dasselbe von der Vernunft verschieden ist, ist hier gleichgültig. Und doch scheint es wie gesagt an der Vernunft teil zu nehmen. Es gehorcht ihr ja beim Enthaltsamen. Noch gehorsamer aber ist es beim Mäßigen und Starkmütigen, bei denen alles mit der Vernunft im Einklang steht35.
Es erweist sich also auch das unvernünftige Vermögen als zweifach: das pflanzliche hat gar nichts mit der Vernunft gemein, das sinnlich begehrende dagegen und überhaupt das strebende Vermögen nimmt an ihr in gewisser Weise teil, insofern es auf sie hört und ihr Folge leistet. Das wäre also etwa in der Art, wie wir uns in praktischen Dingen nach dem Rate des Vaters und der Freunde, nicht wie in der Wissenschaft nach den Sätzen der Mathematik richten. Daß aber der unvernünftige Teil gewissermaßen von der Vernunft überredet