Farm der Tiere. Eine Märchenerzählung. George Orwell

Farm der Tiere. Eine Märchenerzählung - George Orwell


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      George Orwell

      Farm der Tiere

      Eine Märchenerzählung

      Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Hans-Christian Oeser

      Reclam

      2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2021

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961861-6

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-20634-8

       www.reclam.de

      1

      Mr Jones von der Manor Farm hatte die Türen der Hühnerställe für die Nacht verriegelt, war aber zu betrunken, um daran zu denken, auch die Schlupflöcher zu sichern. Vor sich den hin und her tanzenden Lichtkegel seiner Laterne, torkelte er über den Hof, schleuderte an der Hintertür die Stiefel von sich, zapfte sich aus dem Fass in der Spülküche ein letztes Glas Bier und machte sich auf den Weg ins Bett, wo Mrs Jones bereits schnarchte.

      Kaum war das Licht im Schlafzimmer erloschen, machte sich in den Wirtschaftsgebäuden ein Gewusel und Geflatter bemerkbar. Tagsüber hatte sich die Nachricht verbreitet, Old Major, der preisgekrönte Middle-White-Eber, habe in der vorhergehenden Nacht einen sonderbaren Traum gehabt, den er den anderen Tieren mitteilen wollte. Es war vereinbart worden, dass sie, sobald Mr Jones endlich aus dem Weg wäre, alle in der großen Scheune zusammenkommen sollten. Old Major (so wurde er stets genannt, obwohl der Name, unter dem er bei der Schau gezeigt worden war, Willingdon Beauty lautete) genoss ein so hohes Ansehen auf der Farm, dass alle bereitwillig eine Stunde Schlaf opferten, um sich anzuhören, was er zu sagen hatte.

      An einem Ende der großen Scheune, auf einer Art erhöhtem Podest und unter einer Laterne, die von einem Balken herabhing, hatte sich Major bereits auf seinem Strohbett niedergelassen. Er war zwölf Jahre alt und hatte in letzter Zeit ziemlich zugelegt, war aber noch immer ein majestätisches Schwein von weisem und wohlwollendem Aussehen, obgleich ihm nie die Hauer gestutzt worden waren. Binnen kurzem trafen auch die anderen Tiere ein und machten es sich bequem, ein jegliches nach seiner Art. Zuerst kamen die drei Hunde Bluebell, Jessie und Pincher, dann die Schweine, die sich auf das Stroh unmittelbar vor dem Podest legten. Die Hühner hockten sich auf die Fensterbänke, die Tauben flatterten auf die Dachsparren, die Schafe und die Kühe lagerten sich hinter den Schweinen und begannen wiederzukäuen. Die beiden Zugpferde Boxer und Clover fanden sich gemeinsam ein, sie gingen ganz bedachtsam und setzten ihre mächtigen behaarten Hufe mit großer Sorgfalt, falls sich ein kleines Tier im Stroh versteckte. Clover war eine kräftige, mütterliche Stute, die sich der Lebensmitte näherte und nach dem vierten Fohlen ihre Figur nie wieder ganz zurückbekommen hatte. Boxer war ein gewaltiges Tier, er hatte ein Stockmaß von 183 Zentimetern und war so stark wie zwei gewöhnliche Pferde zusammengenommen. Ein weißer Streifen auf dem Nasenrücken verlieh ihm ein leicht dümmliches Aussehen, und tatsächlich war er nicht eben von erstrangiger Intelligenz, wurde aufgrund seiner Charakterfestigkeit und seiner ungeheuren Arbeitskraft jedoch allseits geachtet. Nach den Pferden trafen Muriel, die weiße Ziege, und Benjamin, der Esel, ein. Benjamin war das älteste Tier auf der Farm und das übellaunigste. Er sprach selten, und wenn er es tat, dann gewöhnlich nur, um eine zynische Bemerkung von sich zu geben – so sagte er etwa, dass Gott ihm zwar einen Schwanz geschenkt habe, um die Fliegen fernzuhalten, doch lieber wären ihm kein Schwanz und auch keine Fliegen gewesen. Als einziges Tier auf der Farm lachte er nie. Auf die Frage, warum, antwortete er dann wohl, er sehe nichts, worüber er lachen könne. Dennoch war er, ohne es offen zuzugeben, Boxer treu ergeben; die Sonntage verbrachten die beiden meist gemeinsam auf der kleinen Koppel hinter dem Obstgarten, wo sie Seite an Seite grasten und schwiegen.

      Die beiden Pferde hatten sich eben hingelegt, als eine Schar Entlein, die ihre Mutter verloren hatten, schwach piepsend in die Scheune gewatschelt kam und von einer Ecke zur anderen irrte, um ein Plätzchen zu finden, wo sie nicht zertrampelt würden. Mit ihrem großen Vorderbein bildete Clover eine Art Mauer um sie herum, und die Entlein kuschelten sich hin und schlummerten unverzüglich ein. Im letzten Moment tänzelte, an einem Stück Zucker kauend, anmutig Mollie herein, die törichte, hübsche weiße Stute, die Mr Jones’ Einspänner zog. Sie wählte einen Platz weiter vorne und schüttelte ihre weiße Mähne in der Hoffnung, Aufmerksamkeit auf die roten Bänder zu lenken, die hineingeflochten waren. Zu guter Letzt kam die Katze, die sich wie immer nach dem wärmsten Fleckchen umsah und sich schließlich zwischen Boxer und Clover schmiegte; während Majors Rede schnurrte sie dort zufrieden, ohne auch nur ein Wort von dem zu hören, was er sagte.

      Nunmehr waren alle Tiere anwesend, außer Moses, dem zahmen Raben, der auf einer Stange hinter der rückwärtigen Tür schlief. Als Major sah, dass sich alle bequem eingerichtet hatten und gespannt warteten, räusperte er sich und hob an:

      »Genossen, ihr habt bereits von dem sonderbaren Traum gehört, den ich letzte Nacht hatte. Auf diesen Traum werde ich später eingehen. Zunächst habe ich etwas anderes zu sagen. Ich glaube nicht, Genossen, dass ich noch viele Monate unter euch weilen werde, und bevor ich sterbe, sehe ich es als meine Plicht an, euch die Weisheit zu vermitteln, die ich mir erworben habe. Ich habe ein langes Leben gehabt; wenn ich allein in meinem Koben lag, hatte ich viel Zeit zum Nachdenken, und ich glaube, ich kann sagen, dass ich das Wesen unseres Daseins auf dieser Erde so gut wie jedes andere heute lebende Tier verstehe. Darüber möchte ich mit euch sprechen.

      Nun, Genossen, was ist das Wesen unseres Daseins? Seien wir ehrlich: Unser Dasein ist elend, mühsam und kurz. Wir werden geboren, wir kriegen gerade mal so viel Futter, dass uns der Atem nicht ausgeht; diejenigen von uns, die dazu in der Lage sind, werden gezwungen, bis zum letzten Rest ihrer Kräfte zu arbeiten; und sobald es mit unserer Nützlichkeit zu Ende geht, werden wir mit abscheulicher Grausamkeit geschlachtet. Kein Tier in England, wenn es erst einmal ein Jahr alt ist, kennt noch die Bedeutung von Glück oder Muße. Kein Tier in England ist frei. Das Leben eines Tieres ist Elend und Sklaverei. Das ist die ungeschminkte Wahrheit.

      Aber ist das schlicht und einfach Teil der natürlichen Ordnung? Liegt es daran, dass unser Land so arm ist, dass denen, die darin leben, kein anständiges Leben ermöglicht werden kann? Nein, Genossen, tausendmal nein! Der Boden Englands ist fruchtbar, sein Klima günstig; England könnte einer viel größeren Anzahl von Tieren, als es jetzt bewohnen, Futter im Überfluss bieten. Diese eine Farm würde ein Dutzend Pferde, zwanzig Kühe, Hunderte von Schafen ernähren – und sie alle könnten in einer Behaglichkeit und Würde leben, die unsere heutige Vorstellungskraft fast übersteigt. Warum dann lassen wir diese elenden Zustände fortdauern? Weil uns fast alle Erträge unserer Arbeit vom Menschen gestohlen werden. Das, Genossen, ist die Ursache aller unserer Probleme. Sie lässt sich in einem Wort zusammenfassen – Mensch. Er ist der einzig wahre Feind, den wir haben. Man entferne den Menschen von der Bildfläche, und die Hauptursache für Hunger und Überarbeitung wäre für immer beseitigt.

      Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das konsumiert, ohne zu produzieren. Er gibt keine Milch, er legt keine Eier, er ist zu schwach, um den Pflug zu ziehen, er kann nicht schnell genug rennen, um Kaninchen zu fangen. Und doch ist er Herr über alle Tiere. Er lässt sie arbeiten, er gibt ihnen nur das Allernotwendigste zurück, damit sie nicht verhungern, und den Rest behält er für sich. Unsere Arbeit bestellt den Boden, unser Mist düngt ihn, und doch gibt es unter uns keinen, dem mehr gehört als die nackte Haut. Ihr Kühe, die ich euch vor mir sehe, wie viele tausend Liter Milch habt ihr im vergangenen Jahr gegeben? Und was ist aus all der Milch geworden, mit der ihr kräftige Kälber hättet aufziehen sollen? Jeder Tropfen davon ist in die Kehlen unserer Feinde geflossen. Und ihr Hennen, wie viele Eier habt ihr im vergangenen Jahr gelegt, und aus wie vielen dieser Eier sind jemals Küken geschlüpft? Die übrigen sind alle auf den Markt gebracht worden, damit Jones und seine Männer damit Geld verdienen. Und du, Clover, wo sind die vier Fohlen, die du zur Welt gebracht hast und die dir


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