Ein Zimmer für sich allein. Virginia Woolf

Ein Zimmer für sich allein - Virginia Woolf


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die schiefe Bahn geraten war –, mit all jenen Mutmaßungen über die menschliche Natur und den Charakter dieser erstaunlichen Welt, in der wir leben, die wie von selbst einem solchen Auftakt entspringen. Während diese Dinge besprochen wurden, kam mir jedoch peinlich berührt zu Bewusstsein, dass wie von selbst eine Strömung eingesetzt hatte und alles einem eigenen Ziel entgegentrug. Man mochte über Spanien oder Portugal, über Bücher oder Rennpferde reden, aber das eigentliche Interesse dessen, was gesagt wurde, galt nicht diesen Dingen selbst, sondern dem Bild von Steinmetzen auf einem hohen Dach vor etwa fünfhundert Jahren. Könige und Adlige brachten große Säcke voller Schätze und schütteten sie in die Erde. Dieses Bild lebte in meiner Vorstellung immer wieder auf und gesellte sich zu einem anderen von mageren Kühen, einem morastigen Marktplatz, welkem Gemüse und vertrockneten Herzen alter Männer – diese beiden Bilder, so zusammenhanglos und unverbunden und widersinnig sie waren, erschienen immer wieder gemeinsam und bekämpften sich und hielten mich völlig in ihrem Bann. Damit nicht das ganze Gespräch verdreht wurde, war es am besten, das, was mir im Kopf herumging, der Luft auszusetzen, wodurch es dann mit etwas Glück verschwinden und zerfallen würde wie das Haupt des toten Königs, als man in Windsor seinen Sarg öffnete.21 Daher erzählte ich Miss Seton in aller Kürze von den Steinmetzen, die all die Jahre auf dem Dach der Kirche gewesen waren, und von den Königen und Königinnen und Adligen, die Säcke voller Silber und Gold auf ihren Schultern trugen, das sie in die Erde schaufelten, und wie dann die großen Finanzmagnaten unserer Zeit kamen und – so nehme ich an – Schecks und Wertpapiere darbrachten, wo die anderen Barren und grobe Goldklumpen dargebracht hatten. All das liegt dort unter den Colleges, sagte ich, aber dieses College, in dem wir gerade sitzen, was liegt unter seinen stattlichen roten Ziegeln und dem verwilderten, ungepflegten Rasen des Gartens? Welche Macht steht hinter dem schmucklosen Porzellan, von dem wir gespeist haben, und (hier entfleuchte es meinem Munde, bevor ich es aufhalten konnte) dem Rindfleisch, der Vanillesoße und den Backpflaumen?

      Nun, sagte Mary Seton, um das Jahr 1860 – Oh, aber du kennst die Geschichte ja, sagte sie, gelangweilt, wie mir schien, von der Schilderung. Und dann erzählte sie mir – wurden Räumlichkeiten angemietet. Gremien tagten. Umschläge wurden adressiert. Rundschreiben wurden verfasst. Versammlungen wurden abgehalten, Briefe verlesen, So-und-so hat so viel zugesagt, Mr. *** wird dagegen – keinen Penny geben. Die Saturday Review war äußerst unverschämt gewesen. Wie können wir Mittel beschaffen, um die Verwaltung zu finanzieren? Sollen wir einen Basar veranstalten? Können wir vielleicht ein hübsches Mädchen finden, das sich in die erste Reihe setzt? Lasst uns nachsehen, was John Stuart Mill zu dem Thema gesagt hat.22 Kann jemand den Herausgeber vom *** überreden, einen Brief abzudrucken? Können wir Lady *** dazu bewegen, ihn zu unterschreiben? Lady *** ist verreist. So hat man es damals vermutlich gemacht, vor sechzig Jahren, und es war eine gewaltige Anstrengung, auf die viel Zeit verwendet wurde. Und erst nach einem langen Kampf und unter größten Schwierigkeiten haben sie dreißigtausend Pfund zusammenbekommen.23* Also können wir uns natürlich weder Wein noch Rebhühner leisten und auch keine Diener, die Zinngeschirr auf ihrem Kopf balancieren, sagte sie. Wir können uns weder Sofas noch separate Räumlichkeiten leisten. »Die Annehmlichkeiten«, sagte sie und zitierte aus irgendeinem Buch, »werden warten müssen.«24*

      Bei dem Gedanken an all diese Frauen, die Jahr um Jahr gearbeitet haben und denen es schwergefallen war, zweitausend Pfund zusammenzubekommen, und die mit Mühe und Not dreißigtausend Pfund auftreiben konnten, erfüllte uns die verwerfliche Armut unseres Geschlechts mit verächtlicher Bitterkeit. Was haben unsere Mütter eigentlich getan, dass sie keinen Reichtum besaßen, den sie uns hinterlassen konnten? Sich die Nase gepudert? Einen Schaufensterbummel unternommen? In der Sonne Monte Carlos flaniert? Auf dem Kaminsims standen ein paar Fotografien. Marys Mutter – wenn es ihr Bild war – mochte in ihrer Mußezeit eine Lebedame gewesen sein (sie zeugte dreizehn Kinder mit einem Geistlichen), aber wenn dem so war, dann hatte ihr munteres und ausschweifendes Leben allzu wenig Spuren seiner Vergnügungen auf ihrem Gesicht hinterlassen. Sie war eine häusliche Erscheinung, eine ältere Dame in einem schottischen Plaidtuch, das von einer großen Kamee zusammengehalten wurde; sie saß in einem Korbstuhl und hielt einen Spaniel dazu an, in die Kamera zu blicken, mit der amüsierten, aber dennoch angespannten Miene von einer, die genau weiß, dass der Hund sich bewegt, sobald der Auslöser gedrückt wird. Wenn sie nun ins Berufsleben eingestiegen wäre, Kunstseide hergestellt oder an der Börse spekuliert hätte, wenn sie Fernham zwei- oder dreihunderttausend Pfund vermacht hätte, dann könnten wir heute abend hier ganz gemütlich sitzen, und unsere Gespräche würden vielleicht um Archäologie, Botanik, Anthropologie, Physik, den Aufbau des Atoms, Mathematik, Astronomie, Relativität oder Geographie kreisen. Wenn Mrs. Seton und ihre Mutter und auch deren Mutter doch bloß die große Kunst des Geldmachens erlernt und ihr Vermögen gespendet hätten, wie ihre Väter und Großväter vor ihnen, um Stipendien und Preise für Forschung, Lehre und Studierende zu stiften, die ihrem eigenen Geschlecht vorbehalten waren, hätten wir hier oben recht annehmbar allein Geflügel und Wein schmausen können; wir hätten wohl ohne unangemessene Zuversicht auf ein angenehmes und ehrenvolles Leben vorausschauen können, im Schutze eines der großzügig honorierten Berufe. Wir würden vielleicht forschen oder Bücher schreiben, zu den altehrwürdigen Stätten dieser Welt pilgern, sinnierend auf den Stufen des Parthenons sitzen oder um zehn in ein Büro gehen und um halb fünf gemütlich nach Hause kommen, um ein paar Verse zu schmieden. Nur, wenn Mrs. Seton und ihresgleichen im Alter von fünfzehn Jahren ins Geschäftsleben eingestiegen wären, dann gäbe es – und das war der Haken an der Sache – keine Mary. Was, so fragte ich, dachte Mary darüber? Dort zwischen den Gardinen war die Oktobernacht, still und friedlich, mit ein oder zwei Sternen, die zwischen den gelbgefärbten Bäumen hingen. War sie bereit, ihren Anteil daran und ihre Erinnerungen (denn sie waren eine glückliche, wenn auch große Familie gewesen) an die Spiele und Zankereien dort oben in Schottland, das sie unermüdlich pries für die frische Luft und das leckere Gebäck, abzutreten, damit Fernham mit einem Federstrich etwa fünfzigtausend Pfund erhalten hätte? Denn um ein College zu finanzieren, wäre die gänzliche Abschaffung von Familien erforderlich. Ein Vermögen zu verdienen und dreizehn Kinder zur Welt zu bringen – dazu würde kein Mensch in der Lage sein. Betrachten wir uns einmal die Tatsachen, sagten wir. Zuerst sind da die neun Monate vor der Geburt. Dann wird das Baby geboren. Dann muss es drei oder vier Monate gestillt werden. Ist der Säugling abgestillt, vergehen bestimmt noch fünf Jahre, in denen man mit dem Kind spielen muss. Man kann Kinder offenbar nicht einfach auf der Straße herumlaufen lassen. Leute, die in Russland streunende Kinder gesehen haben, berichten von keinem schönen Anblick. Die Leute sagen auch, der Charakter eines Menschen bilde sich in der Zeit zwischen dem ersten und fünften Lebensjahr heraus. Wenn Mrs. Seton, so fragte ich, nun Geld verdient hätte, welche Art von Erinnerung hättest du dann an Spiele und Zankereien? Was wüsstest du von Schottland, seiner frischen Luft und dem leckeren Gebäck und allem anderen? Aber es ist sinnlos, diese Fragen zu stellen, denn du wärst dann überhaupt nicht auf die Welt gekommen. Obendrein ist es ebenso sinnlos zu fragen, was geschehen wäre, wenn Mrs. Seton und ihre Mutter und deren Mutter davor großen Reichtum angehäuft und damit die Fundamente für College und Bibliothek gelegt hätten, denn erstens war es ihnen unmöglich, Geld zu verdienen, und wenn es ihnen möglich gewesen wäre, hätte ihnen das Gesetz zweitens verweigert, das verdiente Geld auch zu behalten. Erst seit achtundvierzig Jahren darf Mrs. Seton überhaupt einen Penny besitzen.25 All die Jahrhunderte zuvor wäre er das Eigentum ihres Gatten gewesen – ein Gedanke, der vielleicht dazu beigetragen hat, Mrs. Seton und ihre Mütter von der Börse fernzuhalten. Jeder Penny, den ich verdiene, mögen sie sich gesagt haben, wird mir weggenommen und nach Gutdünken meines Gatten verwendet – vielleicht, um am Balliol oder Kings26 Stipendien oder Forschungsgelder zu vergeben, so dass Geldverdienen, selbst wenn ich es könnte, keine Sache ist, die mich sonderlich interessiert. Das überlasse ich lieber meinem Mann.

      Auf jeden Fall konnte, ob die Schuld nun bei der alten Dame lag, die den Spaniel anblickte, oder nicht, kein Zweifel bestehen, dass unsere Mütter ihre Angelegenheiten aus dem einen oder anderen Grunde sträflich vernachlässigt hatten. Kein Penny blieb für »Annehmlichkeiten« übrig, für Rebhühner und Wein, Pedelle und gepflegten Rasen, Bücher und Zigarren, Bibliotheken und Muße. Kahle Mauern auf kargem Grund zu errichten, war das Äußerste, was sie zu tun vermochten.

      So standen wir am Fenster, redeten und schauten, wie so viele Tausend es jeden Abend tun, auf die Kuppeln und Türme der


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