Die Kunst des Krieges. Сунь-цзы

Die Kunst des Krieges - Сунь-цзы


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      Sun Zi

      Die Kunst des Krieges

      Aus dem Chinesischen übersetzt und kommentiert von Harro von Senger

      Reclam

      2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Coverabbildung: Chinesisches Schwert mit Schwertscheide, 18. oder 19. Jahrhundert; aus dem Nachlass von George C. Stone, 1935

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2021

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961877-7

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011339-4

       www.reclam.de

      1. Kapitel

      Kalküle1

      1.1. Meister Sun sagt: Ein1 Krieg2 ist eine wichtige Angelegenheit3 eines Landes4. Als Schauplatz von Tod oder Leben und als Weg in den Fortbestand oder in den Untergang eines Landes kann man es sich nicht leisten, einen Krieg, bevor man ihn führt, nicht einer äußerst sorgfältigen Untersuchung zu unterziehen.

      1.2. Daher5 durchleuchtet man vor einem Krieg sie, nämlich die Konfliktparteien, anhand von fünf grundlegenden Bereichen und vergleicht sie anhand von Kalkülen über sieben mit den fünf grundlegenden Bereichen zusammenhängende Faktoren miteinander, um deren für den Kriegsausgang entscheidende Verhältnisse zu ergründen. Der erste Bereich heißt »Weg«, der zweite heißt »Himmel«, der dritte heißt »Erde«, der vierte heißt »Feldherr«, und der fünfte heißt »Gesetz«. Der rechte Weg im Sinne einer guten Landesführung bewirkt Eintracht zwischen der Bevölkerung und dem Oberhaupt des Landes. Daher ist die Bevölkerung imstande, zusammen mit ihm zu sterben, und sie ist imstande, zusammen mit ihm zu leben, beides, ohne sich gegen ihn aufzulehnen. »Himmel« steht für Yin und Yang im Sinne von Tag und Nacht, klarem oder regnerischem Wetter und von gewissen Geländebedingungen und dergleichen, für Kälte und Hitze und die Reihenfolge der Jahreszeiten. »Erde« bezieht sich auf Anhöhen und Tiefland, nahe und ferne Gebiete, gefahrvolle und leicht zugängliche Orte, weite und enge Räume, todbringendes und das Überleben sicherndes Gelände. »Feldherr« steht für fünf Tugenden, nämlich 1. listkundige Weisheit6; 2. Glaubwürdigkeit; 3. Güte7; 4. Kühnheit und 5. Strenge. »Gesetz« steht für militärrechtliche Bestimmungen8 über die Truppenordnung, die militärischen Dienstwege und -pflichten sowie die Aufsicht über die militärischen Versorgungsgüter. Es gibt keinen Feldherrn, der nicht von diesen fünf Bereichen gehört hätte. Aber nur der Feldherr, der über sie gründlich Bescheid weiß, wird siegen. Wer über sie nicht gründlich Bescheid weiß, wird nicht siegen.

      Daher vergleicht man sie, also die Konfliktparteien, in einem weiteren Schritt anhand von Kalkülen über sieben mit den fünf grundlegenden Bereichen zusammenhängende Faktoren miteinander, um deren für den Kriegsausgang entscheidende Verhältnisse zu ergründen: 1. Welcher Landesherr verfügt über den besseren Weg der Landesführung? 2. Welcher Feldherr verfügt über die größeren Fähigkeiten? 3. Wer erlangt die günstigeren Bedingungen in den Bereichen Himmel und Erde? 4. Wer vollzieht das Gesetz und die Befehle wirksamer? 5. Wer verfügt über die stärkeren Waffen und die kraftvollere Schar von Männern für die Nachschub- und Trossarbeiten9? 6. Wessen Soldaten sind besser ausgebildet? 7. Wessen Belohnungen und Strafen sind klarer und gradliniger? Ich weiß gestützt auf diese sieben Vergleiche, wer siegen und wer verlieren wird.

      Wenn der Feldherr10 auf meinen aufgrund der oben erwähnten Abklärungen festgelegten Kriegsplan hört und man ihn einsetzt, wird man bestimmt siegen. Ihn sollte man behalten. Wenn der Feldherr auf meinen Kriegsplan nicht hört und man ihn dennoch einsetzt, dann wird man bestimmt eine Niederlage erleiden. Ihn sollte man entlassen.11

      1.3. Wenn der aufgrund der oben erwähnten Abklärungen festgelegte Kriegsplan Nutzen verheißt und vom Feldherrn auch schon erhört worden ist, dann gestaltet dieser günstige Konstellationen12 als zusätzliche äußere Beihilfen für dessen möglichst reibungslose Umsetzung.13 Günstige Konstellationen gestaltet er dadurch, dass er ständig auf den eigenen Nutzen ausgerichtete Abwägungen hinsichtlich der sich laufend verändernden Umstände vornimmt und gestützt darauf flexibel lagegerechte Entscheidungen trifft und umsetzt.14

      Der im Vorfeld15 und während eines Krieges beschrittene Weg ist ein mit List16 gepflasterter Weg. Daher greift man zur Gestaltung günstiger Konstellationen dem Feind gegenüber beispielsweise17 zu folgenden Strategemen18. 1. Ist man zu etwas fähig, beispielsweise zu einem Waffengang, dann spiegelt man ihm Unfähigkeit vor. 2. Will man etwas einsetzen, dann spiegelt man ihm dessen Nichteinsatz vor. 3. Will man etwas in der Nähe unternehmen, dann spiegelt man ihm eine Aktion in der Ferne vor. 4. Will man etwas in der Ferne unternehmen, dann spiegelt man ihm eine Aktion in der Nähe vor. 5. Ist er auf einen Vorteil erpicht, dann lockt man ihn mit einem Köder in die Irre. 6. Bricht bei ihm wegen oder ohne Fremdeinwirkung ein Chaos aus, dann bemächtigt man sich seiner. 7. Ist er voll gerüstet, dann wappnet man sich gegen ihn. 8. Ist er stark, dann weicht man ihm aus. 9. Ist er jähzornig, dann reizt man ihn zu unüberlegtem Handeln19. 10. Ist er kleinmütig, macht man ihn überheblich20. 11. Ist er ausgeruht, dann ermüdet man ihn.21 12. Ist er geeint, dann spaltet man ihn.22 Um stets Herr der Lage und im Besitz der Initiative zu sein, greift man ihn zu dem Zeitpunkt und an der Stelle an, wann und wo er unvorbereitet ist, und tritt zu dem Zeitpunkt und an der Stelle auf den Plan, wann und wo er es nicht erwartet.23 Diese Art des Vorgehens ist ein Schlüssel zum Sieg des Feldherrn, er sollte sich ihrer aus der jeweiligen Situation heraus auf biegsame Weise bedienen und kann sie daher nicht vorher starr festlegen und verbreiten.

      1.4. Wer nun aufgrund der vor dem Kriegsausbruch im Ahnentempel24 vorgenommenen Kalküle25 als Sieger erscheint, ist derjenige, der mehr Berechnungsstäbchen26 erlangt. Wer aufgrund der vor dem Kriegsausbruch im Ahnentempel vorgenommenen Kalküle nicht als Sieger erscheint, ist derjenige, der weniger Berechnungsstäbchen erlangt. Wer viel und weitsichtig plant, wird siegen. Wer wenig und oberflächlich plant, wird nicht siegen. Umso mehr droht eine Niederlage demjenigen, der überhaupt nicht plant.27 Für einen künftigen Krieg gilt, dass, wenn ich ihn auf diese Weise, also anhand der fünf Bereiche und der sieben Faktoren, betrachte, sich Sieg und Niederlage als voraussehbar erweisen.

      2. Kapitel

      Kriegsvorkehrungen28

      2.1. Meister Sun sagt: Allgemein gilt gemäß den Regeln betreffend den Armeeeinsatz: Wenn tausend leichte Kampfwagen, tausend schwere Nachschubwagen und hunderttausend panzerbewehrte Soldaten ins Feindesland verlegt und über tausend Meilen hinweg Verpflegung transportiert werden, dann belaufen sich die hierfür im Inland und auf dem auswärtigen Kriegsschauplatz anfallenden Kosten, die Auslagen infolge des Einsatzes von Gesandten und Beratern zum Schmieden von Bündnissen und zur Isolierung des Feindes, die Ausgaben für fäulnishemmende Werkstoffe wie Leim und Lack für Waffen und Geräte und die Aufwendungen für die Wartung von Wagen und Rüstungen auf täglich tausend Goldstücke. Nur dann, wenn man diese Kosten auf sich nimmt, ist der Feldherr in der Lage, eine hunderttausend Mann starke Armee aufzubieten.

      2.2. Bei deren Einsatz für einen Krieg sollte der Feldherr auf einen schnellen Sieg Wert legen. Denn wenn der Krieg zu lange dauert, dann ermatten die Soldaten und erlahmt die Kampfkraft der Armee, und wenn sie eine Stadt angreift, dann werden die Kräfte ausgezehrt. Setzt man die Armee während eines auswärtigen Kriegszuges allzu lange der Sonnenglut, dem Frost, dem Sturm und dem Regen und weiteren Unbilden aus, dann reichen die Ausgaben des Landes nicht aus. Wenn die Soldaten ermattet, die Stoßkraft der Armee erlahmt, die Kräfte des Landes ausgelaugt und dessen Güter aufgebraucht worden sind, dann werden feindliche Lehnsfürsten diese missliche Lage ausnützen und das durch den Krieg erschöpfte Land angreifen. Obwohl dessen Herrscher über noch so weise Berater verfügen mag, dürfte er dann nicht in der Lage sein, diese schlimmen Auswirkungen zum


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