Die Kunst des Krieges. Сунь-цзы

Die Kunst des Krieges - Сунь-цзы


Скачать книгу
ist abhängig vom geschickten Einsatz von Gewöhnlichem und Außergewöhnlichem.59 Dass der Schlag, den eine Streitmacht dem Feind versetzt, gleich wirkt wie der Wurf eines Steins auf ein Ei – das ist abhängig vom geschickten Umgang mit der Leere und der Fülle60.

      5.2. Bei jedem Waffengang tritt man dem Feind im gewöhnlichen Rahmen wie beispielsweise mit konventionellen Truppen oder frontal entgegen, aber mittels aus dem Rahmen fallender außergewöhnlicher Maßnahmen wie etwa eines Flankenangriffs oder mittels überraschender sonstiger Aktionen wie des Angriffs auf vitale feindliche Leerstellen erringt man den Sieg. Die Behelfe dessen, der sich gut darauf versteht, Außergewöhnliches zu erzeugen und einzusetzen, sind so unabsehbar wie die Änderungen am Himmel und die Wandlungen auf der Erde, und so unerschöpflich wie die endlos dahingleitenden Ströme und Flüsse. Es verhält sich so wie mit dem, was verschwindet und dann wieder zu strahlen beginnt – das sind Sonne und Mond –, und wie mit dem, was an ein Ende gelangt und dann wieder ersteht – das sind die vier Jahreszeiten. An Tönen gibt es nicht mehr als deren fünf, aber was die zahllosen Variationen der fünf Töne61 betrifft, so vermag man gar nicht die Fähigkeit aufzubringen, sie alle anzuhören. An Farben gibt es nicht mehr als deren fünf, aber was die zahllosen Variationen der fünf Farben62 betrifft, so vermag man gar nicht die Fähigkeit aufzubringen, sie alle zu betrachten. An Geschmäcken gibt es nicht mehr als deren fünf, aber was die zahllosen Variationen der fünf Geschmäcke63 betrifft, so vermag man gar nicht die Fähigkeit aufzubringen, sie alle zu kosten. An Kriegskonstellationen gibt es nicht mehr als das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche, aber was die zahllosen Variationen von Gewöhnlichem und Außergewöhnlichem betrifft, so vermag man gar nicht die Fähigkeit aufzubringen, sie alle auszuloten. Außergewöhnliches und Gewöhnliches entstehen wechselseitig aus einander, vergleichbar mit der Endlosigkeit eines Kreises – wer vermag an sein Ende zu gelangen!

      5.3. Dass das ungestüme Heranbrausen von reißendem Wasser es dahin bringt, einen Stein wegzuschwemmen, ist die Auswirkung der Entfaltung einer bestimmten Kräftekonstellation. Dass das blitzschnelle Herabstürzen eines Greifvogels es dahin bringt, einem Beutetier die Knochen zu brechen, ist das Ergebnis des Angriffs in der angesichts der Entfernung zum Ziel genau richtigen Zeitspanne. Von jemandem, der sich gut auf die Kriegführung versteht, gilt daher, dass die von ihm herbeigeführten Kräftekonstellationen für den Feind gefährlich und die von ihm für punktgenaue Aktionen beherrschten Zeitspannen kurz bemessen sind. Die Herbeiführung einer Kräftekonstellation gleicht dem Spannen einer Armbrust64, die Beherrschung einer Zeitspanne für eine punktgenaue Aktion gleicht dem Augenblick der Betätigung des Abzuges.

      5.4. Inmitten ungeordnet wirkender Kriegsflaggen und eines wirr anmutenden Schlachtgetümmels wird der Eindruck eines chaotischen Ringens vermittelt, aber die eigene Truppe kann dank einer guten Führung nicht in ein Chaos versetzt werden. Inmitten eines wilden Durcheinanders hält die Armee eine kreisförmige Formation aufrecht, so dass alle Verbände der Armee schlagkräftig interagieren können, weshalb ihr keine Niederlage beigebracht werden kann. Vorgespiegelte Unordnung kann nur aus einer in Wirklichkeit gut geleiteten Armee heraus erzeugt werden. Vorgespiegelte Furcht kann nur aus einer in Wirklichkeit mutigen Armee heraus erzeugt werden. Vorgespiegelte Schwäche kann nur aus einer in Wirklichkeit starken Armee heraus erzeugt werden. Gibt sich eine gut geleitete Armee den Anschein von Chaos, dann ist das ein Truggebilde bezüglich der Truppenordnung. Gibt sich Mut den Anschein von Furcht, dann ist das ein Truggebilde bezüglich der Kräftekonstellation. Gibt sich Stärke den Anschein von Schwäche, dann ist das ein Truggebilde bezüglich des Erscheinungsbildes.65

      5.5. Wer sich gut darauf versteht, den Feind in Bewegung zu setzen, zeigt ihm Truggebilde, denen der Feind mit Sicherheit entsprechende Handlungen folgen lässt. Man bietet ihm einen Köder dar, nach dem der Feind mit Sicherheit greifen wird. Man setzt ihn durch vorgespiegelte kleine Vorteile in Bewegung und erwartet ihn in einem Hinterhalt. Wer sich daher gut in der Kriegführung versteht, erstrebt den Sieg gestützt auf eine günstige Kräftekonstellation und nicht, indem er größte Anstrengungen von seinen Männern abverlangt. So kann er auf den Einsatz vieler Männer verzichten66 und stattdessen die Konstellation ausnutzen. Setzt ein Feldherr, der eine günstige Konstellation ausnutzt, seine Männer für einen Waffengang ein, dann ist das so einfach wie das Rollen eines runden Steins. Die Natur von Holzklötzen und Felsblöcken ist so, dass sie dann, wenn man sie auf einen sicheren Boden legt, in Ruhe verharren, und dann, wenn man sie auf einen schrägen Boden legt, in Bewegung geraten. Nimmt man viereckige Holzklötze und Felsbrocken, dann verharren sie auch auf abschüssigem Grund in Ruhe. Nimmt man runde Holzklötze und Felsbrocken und legt sie auf abschüssigen Boden, dann rollen sie davon.

      5.6. Darum ist die Kräftekonstellation, die ein Feldherr herbeiführt67, der sich gut darauf versteht, seine Männer zu einem Waffengang einzusetzen, vergleichbar mit der Wucht von Geröll, das man von einem achttausend Fuß hohen Berg hinunterrollen lässt 68 – das ist die Wirkung infolge der Entfesselung des in einer unwiderstehlichen, aktiv herbeigeführten oder geistesgegenwärtig ausgenutzten69 Kräftekonstellation schlummernden Potentials.

      6. Kapitel

      Leere und Fülle70

      6.1. Meister Sun sagt: Wer immer zuerst den Ort eines Waffengangs besetzt und dort den Feind erwartet, ist ausgeruht. Wer danach den Ort des Waffengangs besetzen will und auf das Schlachtfeld eilt, ist ausgezehrt. Wer sich daher gut auf Kriegführung versteht, lenkt die feindlichen Männer herbei und lässt sich nicht von den feindlichen Männern fortlenken. Man kann es zustande bringen, dass sich die feindlichen Männer aus eigenem Antrieb an einen Ort begeben, von dem man wünscht, dass sie sich dorthin begeben, indem man sie mit einem in Aussicht gestellten Vorteil dorthin lockt. Man kann es zustande bringen, dass die feindlichen Männer unfähig sind, sich an einen Ort zu begeben, von dem man wünscht, dass sie sich nicht dorthin begeben, indem man sie durch eine angedrohte Schädigung von dort fernhält. Daher gilt: Ist der Feind erholt, dann kann man ihn ermüden. Ist der Feind gesättigt, dann kann man ihn aushungern. Verharrt der Feind in Ruhe, dann kann man ihn in Bewegung versetzen. Man taucht an einem Ort auf, zu dem er unweigerlich herbeieilen muss, und man eilt an einen Ort, von dem er nicht erwartet, dass man dort auftaucht.

      6.2. Wenn eine Armee tausend Meilen marschiert und dabei nicht ermüdet, dann deshalb, weil sie durch Gebiete marschiert, in denen keine feindlichen Männer anwesend sind, die also leer sind. Wenn der Feldherr eine feindliche Stelle angreift und mit Sicherheit erobert, dann deshalb, weil die von ihm angegriffene Stelle vom Feind nicht verteidigt wird, also leer ist. Verteidigt der Feldherr eine Stellung und hält diese mit Sicherheit stand, dann deshalb, weil er all diejenigen Stellen verteidigt, die mit Sicherheit vom Feind angegriffen werden, so dass dieser nirgends eine von der feindlichen Abwehr entblößte Leere zu entdecken vermag. Daher gilt: In der Auseinandersetzung mit einem Feldherrn, der sich gut auf einen Angriff versteht, weiß der Feind nicht, welche Stellen er verteidigen sollte. In der Auseinandersetzung mit einem Feldherrn, der sich gut darauf versteht, eine Stellung zu verteidigen, weiß der Feind nicht, an welcher Stelle er angreifen könnte. Greift der Feldherr an und kann der Feind ihn nicht abwehren, dann deshalb, weil der Feldherr gegen eine feindliche Leere anstürmt. Zieht er sich zurück und kann ihn der Feind nicht einholen, dann deshalb, weil er den Rückzug derart schnell vornimmt, dass ihn der Feind nicht zu erreichen vermag. Daher gilt: Will ich einen Waffengang durchführen und kann der Feind, obwohl er hinter hohen Schutzwällen und tiefen Wassergräben verschanzt ist, gar nicht anders, als hervorzukommen, um mit mir einen Waffengang durchzuführen, so deshalb, weil ich eine feindliche Stelle angreife, die er unbedingt retten muss. Wünsche ich nicht, einen Waffengang durchzuführen, und ist der Feind, obwohl ich den Landstrich, den ich verteidige, lediglich durch mit einem Messer in den Boden geritzte Markierungslinien abgesteckt habe71 und nicht mittels Schutzwällen und Wassergräben schütze, nicht in der Lage, mit mir einen Waffengang durchzuführen, dann deshalb, weil ich ihm Truggebilde zeige und ihn so dazu verleite, sich an einen falschen Ort zu begeben. Geheimnisvoll, geheimnisvoll, wie man es fertigbringt, unsichtbar zu sein, indem man keine über die eigene Seite Aufschluss gebenden Spuren ins Blickfeld des Gegners geraten lässt! Wunderbar, wunderbar, wie man es fertigbringt, unhörbar zu bleiben, indem man


Скачать книгу