Unterricht im digitalen Klassenzimmer. Doug Lemov
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Einleitung: Fernunterricht, die neue Normalität
Doug Lemov und Erica Woolway
Es gibt ein paar kurze, schöne Momente in einer von Eric Sniders Distanz‐Englischstunden, die er mit seinen Schülern der Achievement First Iluminar Mayoral Academy Middle School in Cranston, Rhode Island, abgehalten hat. Die Klasse liest Rita Williams‐Garcias One Crazy Summer und Eric fragt, ob jemand eine Frage beantworten will, von der die Schüler wissen, dass sie schwierig ist. Eric hat ihnen schon ruhig und ohne Wertung gesagt, dass sie eine Kernidee falsch verstanden haben – und dass die Frage knifflig ist. Viele Schüler sind unbeeindruckt und melden sich freiwillig. »Danke, James. Danke, George. Danke, Jaylee«, sagt er bei jedem, der sich meldet. Er zeigt den Schülern, dass er sieht, wie sie sich der Herausforderung stellen. Schnell gibt es noch mehr Freiwillige. »Oh, so viele Hände. Wirklich klasse.«
Das ist ein toller Augenblick, denn er erinnert uns daran, wie wichtig es für uns Menschen ist, gesehen zu werden. Jemandem zu sagen, dass man anerkennt, wie er sich Herausforderungen stellt, kann das Beste aus ihm herausholen, online ebenso wie persönlich.
Es erinnert uns auch daran, dass es das Verhalten von Menschen beeinflussen kann, andere zu beobachten. Wir können so mehr zu dem werden, was wir uns zur Beobachtung auswählen. »Der menschliche Körper hat etwa elf Millionen Sinnesrezeptoren«, schreibt James Clear in Die 1 %‐Methode. »Etwa zehn Millionen davon dienen dem Sehsinn … eine kleine Veränderung in dem, was man sieht, kann eine große Veränderung des Handelns bewirken.« Gute Vorbilder spielen eine große Rolle.
Der Clip endet, wie Sie später sehen werden, mit einer Schülerin, die die schwierige Frage ausführlich und überzeugend vom Rücksitz im Auto ihrer Familie aus beantwortet. Unsere Welt ist jetzt anders, aber sie hat es geschafft, sich anzupassen, und das sehr gut.
Auch Lehrer sind gefordert, sich einer schwierigen Aufgabe zu stellen: sich ohne Vorwarnung in ein unbekanntes Universum zu begeben – eins, in dem sie aus der Entfernung mit ihren Schülern interagieren, wie durch ein kleines Schlüsselloch in der Tür des Klassenzimmers. Jeder der jungen Menschen, die ihnen wichtig sind, erscheint jetzt als kleines Bild in der Ecke ihres Bildschirms (und gelegentlich nicht mal das).
Im letzten Jahr hat sich fast alles rund ums Lernen für uns Lehrer verändert, außer dass die Schüler uns brauchen. Und so wurde es zwingend notwendig, uns so schnell und effizient wie möglich neue Methoden anzueignen, um sie zu erreichen.
Dieses Buch hat das Ziel, die Lektionen dieses Moments in Erics Klassenzimmer an Sie, an Lehrerinnen und Lehrer, weiterzugeben. Wir zeigen Ihnen wertvolle kleine Augenblicke aus Stunden von echten Lehrern, die online arbeiten. Wir teilen Einblicke und diskutieren die Prinzipien dieser Beispiele, die Ihnen helfen sollen, sich so erfolgreich wie möglich an unsere »neue Normalität« des Distanzunterrichts oder der Kombination aus Distanz‐ und Präsenzunterricht anzupassen. Wir möchten damit unsere Anerkennung ausdrücken, gegenüber Ihnen und den Lehrern, deren Arbeit wir zeigen.
Niemand wollte, dass die Welt sich derart verändert, aber es ist passiert. Für Sie als Lehrer bedeutet das viel Arbeit. Wenn Sie diese Zeilen lesen, sind Sie dabei, das zu realisieren und sich dem zu stellen. Das freut uns und wir möchten Ihnen für Ihr Engagement etwas zurückgeben. Und die gute Nachricht ist, dass die Lehrer sich den schwierigen Gegebenheiten nicht nur gestellt und die Arbeit bewältigt haben. Sie haben sie bewältigt und begonnen, Lösungen für die täglichen Herausforderungen des Fernunterrichts zu finden. Immer, wenn ein Problem auftritt, gibt es irgendwo einen Lehrer, der eine Lösung findet.
Sich der neuen Normalität stellen, und zwar sofort
Durch die neuen Herausforderungen hat sich vieles verändert (zum Beispiel wissen wir alle jetzt, was Zoom ist), aber vieles bleibt auch gleich. Die Grundpfeiler des Unterrichtens und der Beziehungen, die wir aus unserem früheren Leben kennen, gelten weitgehend noch. Manchmal müssen wir nur genauer oder woanders hinsehen, um sie zu erkennen. Wie eine Freundin ihr Leben in Quarantäne beschrieb, ist es eine neue Normalität – völlig anders, aber immerhin mit einem Echo des Gewohnten.
Seit die neue Normalität begonnen hat, haben wir viele Baustellen im »Klassenzimmer« ausgemacht – schlechte Internetverbindung; gute Verbindung, aber einige Kinder, die kein Gerät haben, das ihnen den Zugang ermöglicht; Schüler, die aus Hausfluren ihrer Wohnblöcke teilnehmen; Lehrer, die mit ihren eigenen Kindern auf dem Schoß ihre Klassen unterrichten –, aber vielmehr noch haben wir eine Problemlösungsmentalität entdeckt, eine positive Herangehensweise an Situationen, die wir nicht kontrollieren können. Man blickt seltener zurück und stellt sich voll und ganz der Zukunft.
Es ist wichtig, die Notwendigkeit dieser Haltung hervorzuheben – die absolute Dringlichkeit, besser zu werden bei dem, was wir jetzt tun, unabhängig von den Umständen.
Kürzlich postete1 die Wirtschaftswissenschaftlerin Emily Oster von der Brown University eine Untersuchung ihres Kollegen John Friedman, die zeigt, wie wesentlich die nächsten Monate und Jahre unseres Unterrichtslebens sein werden. Friedman entnahm der Online‐Mathematikplattform Zearn Daten zum Fortschritt der Schüler, übertrug sie in eine Grafik (siehe Abbildung 1, Einleitung) und schlüsselte sie nach Einkommenshöhe auf.
Einleitung, Abb. 1: Fortschritt der Schüler bei Zearn, nach Einkommenshöhe gestaffelt (Klassen, die Zearn vor dem Shutdown verwendet haben)
Die Zahlen basieren darauf, wie Schüler, die schon Erfahrung mit Online‐Lernen hatten, durch das Erreichen von Punkten auf der Zearn‐Plattform Fortschritte machten. Das ist ein unzureichender Maßstab – einerseits gehört viel Selbststudium mit vorab produziertem Material (asynchrones Lernen) dazu, im Gegensatz zum Interagieren mit einem Lehrer via Live‐Übertragung (synchrones Lernen); andererseits sind das Zahlen von Schülern, die schon ausgiebig auf diese Weise gelernt hatten, also von Schülern, für die der Umstieg auf Online‐Unterricht wahrscheinlich eine viel kleinere Veränderung war als für andere. Die erreichten Punkte sind sicher kein idealer Maßstab fürs Lernen, aber sie zeigen sehr deutlich, wie es viele Schüler messbar beeinflusst hat, nicht im Klassenraum zu sein – und durch Aufschlüsselung nach Einkommen können mögliche Ungleichheiten und Unterschiede erkannt werden. So gesehen sind diese Daten erschütternd.
»Sogar Schüler aus den besten Gegenden – mit höherem Durchschnittseinkommen – haben zehn Prozent an Punkten verloren«, schrieb Oster, »und das hat sich anscheinend in den letzten Wochen noch verschlimmert. Für Schüler aus Gegenden mit mittlerem oder niedrigem Einkommen sind die Ergebnisse ein Desaster. Ihre erreichten Punkte sind um 60 Prozent gefallen. Das heißt, Kinder aus diesen Gegenden kommen mit dem Stundenplan nicht einmal halb so schnell voran wie zu Zeiten, in denen sie in der Schule waren«.
Die Situation ist akut, aber wir sind der Ansicht, dass für das Lösen der großen Probleme unsere Bereitschaft nicht unwesentlich ist, uns auf die »kleinen« Fertigkeiten zu fokussieren – um das zu verbessern, was wir als Lehrer jeden Tag tun.
Und