New Order, Joy Division und ich. Bernard Sumner

New Order, Joy Division und ich - Bernard Sumner


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      Die Zeit ist schon eine sonderbare Sache. Wenn man sie noch vor sich hat, ist sie etwas, das man als selbstverständlich ansieht und das nur langsam vergeht. Wenn man dann älter wird, verfliegt sie schneller. Wenn ich zurückblicke, scheine ich bereits einen sehr langen Weg zurückgelegt zu haben – alles wirkt so weit entfernt und wie ein Traum.

      Ich wurde an einem kalt-grauen, nordenglischen Wintertag im Januar 1956 in einem Krankenhaus namens Crumpsall in Manchester geboren und kann mir ausmalen, wie die Stadt in den Fünfzigerjahren ausgesehen hat: schwarz und weiß, grobkörnig, mit eigentümlich aussehenden Autos und schwarzen Lastern mit Scheinwerfern und Kühlergrills, die an strenge Visagen erinnerten, Nebel, das Midland Hotel, die Zentralbibliothek, der Irwell-Fluss, das miese Essen, der Regen. Deshalb zogen wir nach Salford, acht Kilometer entfernt.

      Ich wohnte in der Alfred Street 11, Lower Broughton, Salford 7, hinter einer roten Eingangstür, in einem Reihenhaus, vorrangig umgeben von anständigen Menschen aus der Arbeiterklasse. Meine Familie bestand aus meiner Mutter Laura, meiner Großmutter, die ebenfalls Laura hieß, sowie meinem Großvater John. Sie alle hießen im Nachnamen Sumner.

      Freilich erinnere ich mich nur bruchstückhaft an diese angeblich prägenden Jahre, aber seht euch ruhig die peinlichen Fotos an. In meiner frühesten Erinnerung sitze ich auf einer braunen Couch und spiele mit einer rot- und cremefarbenen Gitarre, auf der „Teen Time“ geschrieben stand.

      So fing alles an.

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      Während ich das hier schreibe, mache ich mich startklar, um mit New Order in Chile, Argentinien, Uruguay und Brasilien auf Tour zu gehen. Wir haben uns in diesen Ländern nie sonderlich ins Rampenlicht gedrängt – andererseits taten wir das außerhalb von Großbritannien nirgendwo besonders nachdrücklich. Trotzdem werden wir vor vollen Häusern spielen – und das so weit von unserer Heimat Manchester entfernt, wie man sich nur irgendwie vorstellen kann. Joy Division und New Order sind Phänomene internationalen Ranges. Unsere Musik wird auf der ganzen Welt gehört und ich bin mir nicht sicher, wie oder warum das passiert ist: Beide Bands sind nicht unbedingt konventionelle Popgruppen, die Hits am Fließband ablieferten und viel im Top-40-Radio gespielt wurden. Und trotzdem ist es uns irgendwie gelungen, eine große wie loyale Anhängerschaft rund um den Globus zu erspielen. Sogar dort, wo man es von vornherein am wenigsten erwarten würde. Erst vor kurzem sah ich im Fernsehen einen Nachrichtenbericht aus dem Nahen Osten. Leute eilten darin während eines Raketenangriffs zu einem Luftschutzbunker, als plötzlich eine Teenagerin durchs Bild rannte, die ein Unknown Pleasures-Shirt trug.

      Auch die Langlebigkeit unserer Musik erstaunt mich stets aufs Neue. Joy Division begannen 1977 – und jetzt sind wir hier, mehr als drei Jahrzehnte später, so populär wie eh und je und gewinnen fortlaufend neue Generationen von Hörern für uns. Auf unserer jüngsten Tour erkundigte ich mich bei ein paar der Fans, die noch keine 20 waren, wie sie New Order entdeckt hätten. In der Regel waren ihre älteren Geschwister für den ersten Kontakt verantwortlich. Manche hatten die Plattensammlungen ihrer Eltern nach Brauchbarem durchstöbert und waren dabei auf uns gestoßen, was ich fantastisch finde.

      All dies trägt dazu bei, dass wir mit New Order tolle Zeiten durchleben dürfen. In den letzten paar Jahren waren wir so ausgelastet und erfolgreich wie kaum jemals zuvor in der Geschichte unserer Band, die wir vor über 30 Jahren gegründet hatten. In vielerlei Hinsicht gehörten diese Jahre auch zu den schönsten. Was 2011 mit ein paar Benefiz-Konzerten anfing, führte zu einer Reihe von Festival-Gigs, und bevor wir uns versahen, befanden wir uns auf einer mehrmonatigen Welttournee. Seit damals kam es gleich zu mehreren Neuauflagen.

      Diese Tour unterstrich neuerlich die ganz spezielle Verbindung, die zwischen Fans und New Order beziehungsweise Joy Division zu bestehen scheint. Egal wo ich hingehe, treffe ich eine ganze Bandbreite von Menschen, jung und alt, die mir Alben für ein Autogramm reichen und mir sagen, wie viel ihnen unsere Musik bedeute und dass sie der Soundtrack zu ihrem Leben gewesen sei oder immer noch sei. Oft fragen sie, ob sie ein Foto mit mir machen dürfen. Sie stehen dann neben mir und halten ihre iPhones, um den Schnappschuss zu knipsen, und ich sehe, wie ihre Hände zittern. Sie sind so leidenschaftliche Fans unserer Musik, dass es ihnen schwerfällt, die Kamera stillzuhalten. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, ein Teil von etwas zu sein, das einen solchen Einfluss auf jemandes Leben hat, egal, ob diese Menschen nun aus einem Vorort von Manchester oder aus den Vororten von Lima, Auckland, Tokio, Berlin oder Chicago stammen.

      Die Fans von New Order sind unerschütterlich in ihrer Loyalität. Sie mögen New Order nicht bloß, sie fühlen sich tief verbunden mit der Band und ihrer Musik. Es geht weit darüber hinaus, einfach Gefallen an einer eingängigen Nummer zu finden, nein, es ist etwas ungemein Persönliches. Es ist nicht bloß so, dass sie uns hören, während sie sich um den Abwasch kümmern, oder uns gelegentlich im Radio wahrnehmen. Es handelt sich hier um Menschen, deren Leben sich geändert hat, die eine Art von Trost oder Inspiration in unserem Werk gefunden haben.

      Der Hauptfaktor dabei ist natürlich die Musik an sich: Die Leute finden darin etwas, das auf eine sehr nachhaltige Weise ihr eigenes Leben wiedergibt. Für mich war es stets eine Lektion in Demut, von Menschen zu hören, was ihnen unsere Musik bedeutet. Jedoch war das immer eine eher einseitige Unterhaltung. Das heißt: bis jetzt.

      Ich bin von Natur aus ein sehr zurückgezogener Typ und habe es stets vorgezogen, die Musik für mich sprechen zu lassen. Über die Jahre hinweg hab ich zahllose Interviews über die Bands, in denen ich spielte, beziehungsweise die Musik, die ich machte, gegeben, aber nie zuvor habe ich dabei irgendetwas davon mit meinem Privatleben in Verbindung gebracht. Mein Leben in der Musik ist komplett von der Person, die ich bin, und den Dingen, die mir widerfahren sind, geprägt. Bei unserer Musik ging es etwa nie darum, auf seinem Instrument besonders virtuos zu sein. Sie ist ohne Einschränkung das Produkt unserer Persönlichkeiten und die Summe all unserer Erfahrungen.

      Doch obwohl die privaten Aspekte meines Lebens unverzichtbar für meine Kreativität sind, war mir immer sehr unwohl dabei, über sie zu sprechen. Ich errichtete bereits früh eine Barrikade zwischen meinem privaten und meinem öffentlichen Ich, durch die ich nur selten – falls überhaupt – Durchlass gewährte.

      Seit wir jedoch wieder angefangen haben, auf Tour zu gehen, und ich die Reaktionen der Konzertbesucher gesehen habe und gehört habe, was ihnen unsere Musik bedeutet, bin ich ins Grübeln gekommen. Ich habe begriffen, dass ich den Leuten einen Einblick hinter die Kulissen meiner Story schulde, weil ich denke, dass niemand unsere Musik zur Gänze verstehen kann, ohne eine Ahnung davon zu haben, woher sie eigentlich kommt. Das Leben formt einen und das, was das Leben mit einem macht, beeinflusst seine Kunst. Es ist an der Zeit für mich, einige Lücken auszufüllen. Vielleicht hilft es den Leuten dabei, zu verstehen, warum unsere Musik sie so berührt.

      Ich habe das Gefühl, dass ich in meinem Leben an einem Punkt angelangt bin, an dem ich meine Geschichte erzählen sollte, bevor ich es vielleicht nie mehr mache. Auf den folgenden Seiten finden sich viele Dinge, bei denen es mir schwerfiel, über sie zu sprechen – Dinge, über die ich noch nie öffentlich geredet habe, die allerdings für ein umfassendes Verständnis meiner Person, meiner Bands und der Musik, die ich half zu kreieren, unbedingt notwendig sind. Mein Schweigen zu Themen abseits meiner Bands hat dazu geführt, dass sich Mythen und Unwahrheiten als Tatsachen etablieren konnten, weswegen ich hoffe, dass ich ein paar der fälschlich entstandenen Eindrücke korrigieren und so viele Mythen wie möglich entkräften kann.

      Außerdem ist das, was wirklich geschah, eine viel, viel bessere Story.

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      Los Angeles brachte die Beach Boys hervor, Düsseldorf gab uns Kraftwerk und New York schenkte uns Chic. Manchester hingegen zeichnet für Joy Division verantwortlich.

      Die Harmonien der Beach Boys waren voller Wärme und Sonnenschein, Kraftwerks bahnbrechender elektronischer Pop war erfüllt von Deutschlands wirtschaftlicher und technologischer Wiedergeburt, wohingegen in der Musik von Chic der vergnügliche Hedonismus des New Yorks der


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