New Order, Joy Division und ich. Bernard Sumner
Wir bissen uns alle auf die Innenseite unserer Wangen, starrten in unsere Schulhefte, alles nur, um nicht lautstark über das unglückselige Schicksal seines kleinen Autos lachen zu müssen.
Doch niemand von uns hätte prophezeien können, wie seine Laufbahn an der Salford Grammar School schließlich ihr Ende fand. Eines Tages saßen wir im Mathematik-Unterricht, als wir von draußen plötzlich Glas zerbrechen hörten. Wir konnten gerade noch sehen, wie Stühle durch die Fenster des naturwissenschaftlichen Klassenzimmers, in dem der wirre Lehrer unterrichtete, geworfen wurden und auf dem Asphalt landeten. Unser erster Gedanke war, dass er vermutlich ganz besonders schlechte Laune gehabt und jemanden beim Lachen oder so erwischt hatte. Die Wahrheit allerdings war viel schlimmer.
Zuerst hatte er alle Bunsenbrenner dahingehend manipuliert, dass es nicht länger möglich war, den Gasfluss zu regulieren. Dann separierte er die jüdischen Kinder von den restlichen Schülern seiner Klasse, sperrte sie im Klassenzimmer ein, ging in sein Kämmerchen und drehte das Gas auf. Was wir da hörten und sahen, waren die armen Schüler, die Stühle durch die Fenster warfen, um Luft zu bekommen. Es war absolut grauenhaft. Es war wenig verwunderlich, dass wir den Lehrer nie mehr wiedersahen. Vermutlich wurde er in eine Zwangsjacke gesteckt und fortgebracht.
Abgesehen von diesem befremdlichen Holocaust-Vorfall ähnelte meine Zeit an der Salford Grammar School in vielerlei Hinsicht jener an der Grundschule. Weil allerdings alles größer war, traf ich auch auf mehr gleichgesinnte Kinder. Wir fanden uns und bildeten eine Gruppe von Taugenichtsen am hinteren Ende der Klasse. Eines dieser Kinder war ein Typ namens Peter Hook. Rückblickend haben wir uns höchstwahrscheinlich zum ersten Mal in der letzten Reihe eines Klassenzimmers an der Salford Grammar School getroffen. Wir hatten unsere eigene Clique: Außer mir waren da neben „Hooky“ Terry Mason und Dave Pearce, dessen Vater Polizist war. Wenn ich mich nicht irre, ging auch Dave später zur Polizei, und zwar als Scharfschütze.
Wenn wir damit durchkamen, verbrachten wir die monotonen Unterrichtsstunden damit, über Mädchen und Musik zu quatschen. Falls das nicht möglich war, saßen wir einfach nur da und langweilten uns, gafften auf die Uhr und sehnten das Ende der Stunde herbei. Auf unsere Art waren wir in vielerlei Hinsicht wie die Kids aus der englischen Sitcom The Inbetweeners: hoffnungslose Verlierer, die aber eine gute Zeit dabei hatten. Ich erinnere mich etwa daran, dass einer meiner Klassenkameraden eines Tages besonders beliebt war, weil er ein Pornoheftchen in die Schule geschmuggelt hatte. Die waren damals nämlich nicht leicht zu bekommen.
Auch Gresty aus der Alfred Street gehörte zu unserer Hinterbänkler-Gang und war bekannt für einen Trick, den er lange Zeit mit Erfolg abzog: In seiner Schultasche hatte er einen großen Schraubenschlüssel, den er, wenn der Lehrer gerade nicht zu ihm hinsah, auf den Boden fallen ließ, was ein lautes Geräusch verursachte. Dann hob er ihn schnell auf und steckte ihn wieder zurück in seinen Ranzen, bevor der Lehrer die Lärmquelle ausfindig machen konnte. Dafür war einiges an Geschick notwendig und es war ziemlich beeindruckend. Natürlich hatte dieses Kunststück, wie jede andere Show auch, ein Ablaufdatum und Gresty realisierte irgendwann, dass er eine neue Nummer bräuchte. Eines Tages trotteten wir in das Klassenzimmer, in dem die Mathe-Stunde gehalten wurde, und schlichen zurück in die letzte Reihe. Als wir uns hingesetzt hatten, fiel uns auf, dass Gresty sich ganz vorne niedergelassen hatte. Wir sahen uns entsetzt an. Was zum Geier hatte er vor?
Unser Mathe-Lehrer hieß Johnny Barker und auch vor ihm hatten wir eine Heidenangst. Ich glaube, er hat im Krieg einiges mitansehen müssen. Er hasste es zum Beispiel, dass wir unsere Bücher in Schultaschen herumtrugen, und schrie: „Ihr ruiniert die Bücher mit diesen Schultaschen. Meine Kameraden und ich mussten in den Krieg ziehen, damit ihr diese Bücher überhaupt haben könnt!“ Im Anschluss tickte er komplett aus und verbrachte den restlichen Unterricht damit, uns immer wieder zu erklären, dass wir nicht wüssten, wie gut wir es hätten, beziehungsweise, was seine Kameraden im Krieg alles durchmachen hätten müssen. Es war ein wenig seltsam, aber weiter kein Problem für uns, da wir dadurch weniger Zeit mit Mathe verbrachten.
Ein Markenzeichen von Mr. Barker war, dass er uns befahl, unsere Hausaufgabenhefte herauszuholen, damit er von Schüler zu Schüler gehen konnte, um die Hausaufgabe zu kontrollieren und abzuhaken, wobei er seine Runde stets in den vorderen Reihen begann. Wir machten nur selten unsere Hausaufgabe, zumindest nicht selbst. Gelegentlich schrieben wir sie in der Toilette vor den Schulstunden ab. Deshalb versuchten wir immer, ihn abzulenken. Die erfolgreichste Methode war, Barker in ein Gespräch zu einem Thema zu verwickeln, zu dem er ganz entschiedene Ansichten vertrat. Wir wussten bald, dass das am besten mit Cricket und dem Krieg funktionierte. Einer von uns fragte dann mit unschuldiger Stimme so etwas wie: „Sir, wie war denn das im Krieg? Waren die Spitfires wirklich so gut, wie man sagt?“ Oder: „Welches ist das beste Team, das es je in Lancashire gegeben hat, Sir?“ In der Regel blickte er dann aus dem Fenster und ließ einen seiner Monologe vom Stapel, entweder über die Vielseitigkeit der Spitfire oder über irgendein hammermäßiges Cricket-Team, das in den Dreißigerjahren die Meisterschaft von Lancashire erringen konnte. Gleichzeitig verrannen die Minuten, bis schließlich die Schulglocke das Ende der Stunde signalisierte – was für uns hieß, dass wir ungeschoren davongekommen waren. Wieder einmal. Wir hatten die Lage jedenfalls gepeilt.
Aber an diesem speziellen Tag hatte sich Gresty an die vorderste Front gesetzt. Keiner von uns wusste, was da vor sich ging: Da vorne müsste er schließlich seine Hausaufgaben vorzeigen. Mr. Barker hatte auch kein Verständnis für schlechtes Betragen in seinem Unterricht. Es durfte nicht geredet oder gelacht werden. Sogar ein Grinsen konnte einem ein Nachsitzen einbringen. Gresty wusste das. Wir alle wussten das. Die Unterrichtsstunde fing an und Mr. Barker ging auf und ab und erzählte was von Sinus und Cosinus oder so. Er ging an Gresty vorüber, der sich hinter seinem Pult nach hinten lehnte und die Arme hinter seinem Kopf verschränkte, damit wir alle sehen konnten, dass seine Tasche auf seinem Schoß lag und sich wie von selbst hob und senkte. Er hatte sich selbst zu einer Erektion verholfen und benutzte sie, um den Ranzen wiederholt anzuheben. Das war sein neuer Trick. Ein richtig guter sogar. Und wir durften nicht lachen.
Abgesehen von solch phallischen Einlagen hatte die Salford Grammar School auch einen großen Anteil daran, dass ich mit meinen ersten musikalischen Einflüssen in Kontakt kam – nicht etwa im Musikunterricht, sondern durch die Kinder, mit denen ich herumhing. Außerdem hatten wir einen supercoolen Geografielehrer, einen jungen Typen mit langen Haaren, an dessen Namen ich mich gerne erinnern würde. Er sagte: „Ich weiß, dass manche von euch Geografie langweilig finden. Ich verstehe das. Aber tut mir einen Gefallen: Wenn dem so ist, macht bitte trotzdem keinen Stunk in meiner Stunde. Wenn ihr euch ruhig verhaltet, gibt es da drüben einen Raum mit einem Schallplattenspieler und ich lasse euch in der Pause hinein, damit ihr Musik hören könnt.“ Er war großartig, ein echt cooler Typ. Alle Kids respektierten ihn. Er erkundigte sich bei einem, was man so hörte, also begannen wir, Schallplatten mitzunehmen. Er half dabei, an der Schule eine Musikkultur abseits des Lehrplans zu etablieren. Ich glaube, dass zu dieser Zeit das Musical Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat aufgeführt wurde. Es war einfach schrecklich und wir wollten nichts damit zu tun haben. Wir wollten Jimi Hendrix, die Stones und die Kinks hören und nicht irgendein Kind, das Musical-Songs vergewaltigte. Wir fanden Dinge wie diese Aufführung einfach nur beschissen. Wenn ich mich richtig erinnere, gaben die meisten Jungs in den Musikstunden nur vor mitzusingen und hatten Pornohefte in ihre Musikbücher eingelegt.
Ich war bis dahin in keinem sehr musikalischen Ambiente herangewachsen. Meine Großeltern hatten zwar ein Grammophon, auf dem sie manchmal eine alte Schellack spielten, aber das gab mir nichts. Ich hatte die Kinks im Radio gehört, als ich noch sehr jung war, und sie gefielen mir sehr. Ich denke, es war im Urlaub, an den Stränden von Torquay – oder wo auch immer –, wo ich blechern klingende Versionen von „You Really Got Me“ und „Lola“ sowie Songs der Beatles und der Stones aus den Transistor-Radios tönen hörte. Dann hörte ich in den Nachrichten von ihrem verkommenen Benehmen – die Drogen und so. Ich kann mich noch genau daran erinnern, gehört zu haben, dass das Haus eines berühmten Sängers im Rahmen einer Razzia durchsucht worden war – und er im Bett mit nicht nur einer, sondern gleich zwei Frauen aufgefunden wurde. Ich war schockiert. Allerdings vergraulte mir das nicht die Musik.
Noch an der Grundschule hatte der Direktor, Mr. Alkister, uns jeden Morgen eine andere Aufnahme eines klassischen Stückes