Nur noch Fußball!. Jürgen Roth
Ende nehmen. »Es wurde ein kleiner Triumphzug für die Berlinerin«, meldet die Welt und fügt hechelnd hinzu: »Mit den eigenen Augen sehen mußte man Claudia Pechstein gar nicht, um zu wissen, wo sie gerade ist. Als sie ihre Runden dreht, springen die Zuschauer auf, wenn die Athletin vorbeirauscht, kreischen sie laut auf.«
Von einem »medialen Großereignis« ist vielerorts die Rede, und die FAZ berichtet: »Um ihnen [den Fans] Beine zu machen, hatte der Veranstalter trotz der prominenten Starterin bei seinem Nachwuchswettbewerb darauf verzichtet, Eintrittsgeld zu verlangen. Claudia Pechstein hatte der Lokalzeitung ihr einziges Interview dieser Tage gewährt und um breite Unterstützung geworben.«
Die ist ihr zuteil geworden, etwa durch den Berliner Kurier, der die Schleimschleuder anwarf und unter der Überschrift »Pechis größter Sieg« von einer »Unrechts-Sperre« faselte und »diesen am Ende so wunderbaren Tag« mit dem Krönungssatz bejubelte: »Eine Kämpferin war Claudia Pechstein schon immer.«
Wohl wahr. Pechstein gab hernach selber kund: »Der Kampf ist dann vorbei, wenn ich vollständig rehabilitiert bin.«
Mehr Kampf war nie, und wir dürfen sicher sein: Der Krampf geht weiter, Muskel- und Hirnkrämpfe eingeschlossen.
Zu lahm für Ochs?
Der Linienrichter hat versucht, uns das Genick zu brechen. […] Vielleicht stellen wir ja einen Antrag, künftig ohne Linienrichter zu spielen.
Fredi Bobic, Sportdirektor des VfB Stuttgart
Gibt es ein rätselhafteres Wesen, einen merkwürdigeren Sozialcharakter als den Linienrichter im Fußball, jenen ausgebildeten Schiedsrichter, der an die Seitenlinie beordert wurde und dort seinem Herrn und Meister, dem Spielleiter, mehr oder weniger zu dienen hat?
Ist der Linienrichter, wie es auf www.schiedsrichtergespann.de heißt, »von höherer Instanz dazu berufen«, Mist zu bauen? Ist sein Tun eitel und unheilbringend – und zwar prinzipiell? Braucht es ihn, den Linienrichter, dieses Fossil, diesen Anachronismus, der seit etwa zwanzig Jahren unter dem noblen Titel des »Schiedsrichterassistenten« firmiert, überhaupt? Wozu und zu welchem Ende Linienrichter im Fußball, wo doch ausgereifte Techniken wie der Videobeweis und der Chip im Ball zur Verfügung stünden, sträubten sich die störrischen Verbände nicht?
Seit 1891 verrichten Myriaden von Linienrichtern zwischen Reykjavik und Kapstadt ihre dubiose, ja numinose oder doch eher ominöse Arbeit, seither ist der Schiedsrichter »der alleinige Leiter des Spiels, und die Linienrichter [sind] ihm unterstellt« (Wikipedia). 78.251 Schieds-, das heißt mehrheitlich Linienrichter begeben sich laut DFB-Statistik aus dem Jahr 2009 allein in Deutschland Woche für Woche an die Fußballfront, unbegreiflicherweise.
Sie staksen, traben und rennen neben einer gekalkten Linie auf und ab – zwischen vier und sieben Kilometer pro Partie, schätzen manche –, den Blick auf den Ball und die Hauptakteure gerichtet, und ab und an reißen sie eine gelbe Fahne in die Höhe, woraufhin der Boß des Ganzen, der Referee, in ein kleines Stück Metall hineinbläst, um anschließend eine Entscheidung anzuzeigen oder zu verkünden. Ist das nicht eine der inferiorsten, beschämendsten Betätigungen, die denkbar sind? Ist der Fußballinienrichter, noch weit vor dem Tennis-, dem Volleyball- und dem Hundesport-, das heißt dem Flyballinienrichter, nicht die reinste Inkarnation der Subalternität?
»Als normaler Mensch fragt man sich ja immer, wie zum Geier man eigentlich Linienrichter werden kann«, lesen wir auf www.captain-trikot.de. »Schiedsrichter – das ist ja schon kraß, aber Linienrichter?«
Jürgen Röber, ehemals Trainer von Hertha BSC und vom VfL Wolfsburg, bekannte Ende 2000 in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung, es sei für ihn »schwer vorstellbar«, wie jemand mit halbwegs intaktem Gefühlsleben Schieds- und Linienrichter werden wolle, »sich auf Amateurplätzen durchbeißen« wolle, »von allen Leuten angemacht«.
Was sind das für Typen, die über keine Karten verfügen, keinen Stift, keine elaborierte, von Individualität zeugende Geste? Deren Kommunikationssystem aus einem einzigen, geringfügig variierten Signal besteht – der Fahne, die gehoben wird und die, schreibt die FIFA vor, »eine natürliche Verlängerung des Arms« sein soll? Wer läßt sich freiwillig zu einer Art Maschinenmensch degradieren? Sind’s frühkindlich Traumatisierte? Zwangscharaktere? Schwer Vermittelbare? Schlicht und einfach Feiglinge? »Kleine Männlein an der Seitenlinie« (Klaus Schlappner)?
»Wir sind ganz normale Menschen«, behauptet der Bundesligalinienrichter Olaf Blumenstein. Der stern zählte die Fahnenschwenker im Juli 2009 zu den »Randfiguren« unserer Welt und titulierte sie als »menschgewordene Regelwerke, Zombies mit geheimem Winkbefehl, Grenzsoldaten des Sports«. Kurzum: »Linienrichter, so scheint es, ist ein zutiefst deprimierender Job« – so daß diese Spezies aus Frust und zwecks Kompensation dann auch schon mal Schmiergelder entgegennehmen soll (wie Cetin Sevinc Ende 2009) und vom DFB mit einer »Schutzsperre« belegt wird.
Fragen, Fragen, Fragen. »Ist Ochs zu schnell für den Linienrichter?« (Bild, 31. August 2010) Antwort Heribert Bruchhagen (Eintracht Frankfurt): »Er ist einfach zu schnell für die Linienrichter«, weshalb er, Ochs, ständig wegen angeblicher Abseitsstellung zurückgepfiffen werde.
Der DFB attestiert seinen Schieds- und Linienrichtern, diesen »regelfesten Leistungssportlern« (www.dfb.de), daß sie nach einer »zwanzig bis fünfzig Unterrichtsstunden« dauernden Ausbildung inklusive »Einführung in die Grundzüge der Fußballregeln« und ein wenig Praxis in unteren Ligen über »Augenmaß, Autorität, Kompetenz und Erfahrung, aber auch optimale Fitneß« verfügen, die in regelmäßigen Leistungstests überprüft wird. Warum dann der permanente Ärger? Das rituelle Gebrüll der Trainer in Richtung Schirihiwis? Die Ausraster der Spieler? Wieso der »Ruf nach dem Kamerabeweis« (Internet) und der Abschaffung all dieser streßgeplagten, mittlerweile profund verhaltensgeschulten Unglücksraben? Beziehungsweise – vice versa – nach zwei Linienrichtern auf jeder Seite des Spielfeldes? Oder – besser noch – zehn, alle zehn Meter einer?
Jürgen Röber gestand: »Als Linienrichter bei der Abseitsentscheidung gleichzeitig das Abspiel und die Position des Spielers sehen? Geht nicht. Bei mir nicht. Dieses periphere Sehen, das ist selbst am Bildschirm so schwer.« Rechtfertigt das, daß, wie am 23. April 1994 geschehen, ein Linienrichter einen Ball im Tor sieht, den der Bayern-Mann Thomas Helmer aus fünfzig Zentimetern glasklar neben die Kiste gestolpert hat?
Der Linienrichter Jörg Jablonski erhielt, nachdem er das wohl berühmteste Phantomtor der Fußballgeschichte gegeben hatte, Morddrohungen. Ein Jahr später beendete er seine Karriere, verängstigt, zermürbt. Dieses herzergreifende Beispiel menschlicher Schwäche hinderte jüngst, im Oktober 2010, freilich die Anhänger des VfB Stuttgart nicht daran, eine Photomontage ins Internet zu stellen, auf der der Stürmer Cacau flehentlich ein Schild gen Himmel richtet, auf dem steht: »Eine Bitte an die Linienrichter: Klaut uns diesmal keine Punkte!!!«
Boom, bumm, batsch
Daß Menschen beiderlei Geschlechts Sport treiben, ganz gleich, welchen – bon, soll ja das Übelste nicht sein. Daß manche mit dem Sport ihren Lebensunterhalt bestreiten oder zu bestreiten versuchen, auch das ist weder beklagens- noch tadelnswert, sondern schlicht eine Option in der zur Gänze kapitalisierten Welt. Allein, was halten wir davon, daß beispielsweise der DFB auf seiner Website prophezeit, während der Frauenfußball-WM werde »eine ganze Nation« hinter den deutschen Damen stehen, wie ein Mann am Ende gar? Ist da nicht der durch die Gier nach noch mehr Geld genährte Wunsch der Vater des platten Gedankens, das Publikum in solch heißgeliebte Stadien wie jene in Augsburg, Dresden, Sinsheim und Leverkusen zu locken? Oder ist’s, im Gegenteil, lediglich Ausdruck eines Gratisgesinnungsträgertums, das die eher mühsam und verkrampft erzeugte mediale Aufmerksamkeit gegenüber dem Frauenfußball mit gesellschaftlicher Anerkennung oder Emanzipation verwechselt?
Kann sich noch jemand daran