Geschichten aus dem Alltag. Susanne Wilting

Geschichten aus dem Alltag - Susanne Wilting


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Berufsausbildungen und ihre Jobs, denn ihre Eltern hatten keine Ausbildungen und waren häufig, auch für längere Zeit, arbeitslos.

      Thore ist als Kfz-Mechatroniker in einer großen Vertragswerkstatt angestellt, Anne arbeitet halbtags als Fachverkäuferin in der Filiale einer großen Bäckerei. Finanziell reicht das gerade aus für eine Familie mit drei Kindern. An oberster Stelle in der Haushaltsführung steht strenge Sparsamkeit, um jedem Kind ein Hobby oder eine Sportart zu ermöglichen.

      Die zarte Ina, die jüngste Tochter, weiß ganz genau, dass Thore sie als seine kleine Prinzessin vergöttert. Mit sechs Jahren bezaubert sie alle mit ihrer natürlichen Fröhlichkeit. Ina fällt es unendlich schwer, Entscheidungen zu treffen.

      Ihr Bruder Markus schwärmt für den Boxsport und als Achtjähriger ist er schon fest entschlossen, in eine erfolgreiche Karriere als Profiboxer zu starten.

      Jasper, der Älteste, benimmt sich ganz anders als seine Geschwister. Er fühlt sich unglücklich und bleibt am liebsten ganz für sich allein in seinem Zimmer und liest traurige Gedichte.

      Seine Eltern sind der Meinung, dass er sich für einen Dreizehnjährigen irgendwie komisch verhält.

      „Jasper! Frühstück! Wo bleibst du denn? Du kommst wieder zu spät zur Schule!“

      Annes Stimme klingt immer schärfer. „Was macht er nur so lange da oben?“

      Ungeduldig blickt sie zur Küchentür.

      Geübt schiebt Ina Brotstückchen auf ihrem Frühstücksbrett hin und her und tatsächlich wirkt es so, als ob das Brot weniger wird. „Er liest was und weint.“

      Anne lacht auf. „Das gibt's doch nicht! Wahrscheinlich liest er jetzt schon vor dem Frühstück todtraurige Gedichte. Er steigert sich da richtig rein. Mensch, Thore! Sag' doch auch mal was.“

      Thore blickt überrascht auf. „Ich? Er wird bestimmt gleich runter kommen. Ich denke, wir sollten ihm etwas mehr Zeit geben. Wie sagt man? Das wächst sich raus.“ Thore lächelt seine Frau unsicher an und trinkt einen Schluck Kaffee, um Zeit zu gewinnen.

      Ungeduldig, fast schon abwehrend schüttelt Anne den Kopf. Beim Familienfrühstück fühlt sie sich ganz alleine dafür verantwortlich, dass alle pünktlich das Haus verlassen und das stresst sie total.

      Mit voll gestopftem Mund grinst Markus breit: „Er weint aber richtig doll, Mama.“

      Anne sieht ihn irritiert an. „Du sollst doch nicht schwindeln, Markus.“

      Markus hält sich an seinem Kakaobecher fest und bleibt dabei: „Das tu' ich nicht, Mama. Ich hab's gesehen, als ich runter gekommen bin. Und seine Schultasche hat er auch noch nicht gepackt.“

      Gequält seufzt Anne und steht so abrupt von ihrem Küchenstuhl auf, dass der fast umfällt. Sie stürmt die Treppe hoch, nimmt zwei Stufen auf einmal.

      Oben spricht sie laut, kurz und böse.

      Plötzlich hören sie Jasper schreien: „Ich bring' mich um! Ich bring' mich um!“

      Einen Moment herrscht absolute Stille in der Küche, nur Ina schiebt ungerührt kleine Brotstückchen über das Brettchen.

      Anne lacht und schreit zurück: „Red' doch keinen Quatsch. Hast du das aus deinen Gedichten? Komm' jetzt runter frühstücken. Sofort!“

      Unten lächelt Thore Anne liebevoll an, als sie sich wieder hinsetzt.

      Mittlerweile schwärmt Markus von einem neuen Ausdauertraining, das für seine Fortschritte im Boxen angeblich megawichtig ist.

      Anne und Thore gehen heute Abend zu ihrem monatlichen Kegelabend, ihr gemeinsames, gesellschaftliches Highlight. Voller Vorfreude hat Thore schon gute Laune und übersieht großzügig Inas Versuche, ihr Frühstücksbrot jetzt im Kakao zu versenken und er hat auch keine Lust, sich den ganzen Tag und vor allem den Abend von seinem ältesten, ständig traurigen und deprimierten Sohn verderben zu lassen. Er steht auf und schaut zufrieden aus dem Küchenfenster. Gestern hat er nach der Arbeit den kleinen Vorgarten mit bunten Frühlingsblumen bepflanzt. Es ist ihm sehr wichtig, diese Arbeiten genau zur gleichen Zeit wie seine Nachbarn zu erledigen. Es sieht recht annehmbar aus, langweilig, haargenau wie in Gärten der Nachbarn. Auf keinen Fall möchte Thore Anlass zur Kritik geben, dass wäre schrecklich für ihn. Immer noch lächelnd setzt er sich wieder an den Tisch, um weiter zu frühstücken. Es gelingt ihm, Anne mit ein paar Bemerkungen über den Kegelabend abzulenken. Was wird sie anziehen? Den neuen Rock? Bald lachen die beiden zusammen und blenden alles um sich herum aus.

      Unbemerkt erscheint Jasper ein paar Minuten später mit verweinten Augen am Frühstückstisch. Er trinkt nur ein paar Schlucke von seinem fast kalten Kakao.

      Mittags kommt Anne gerade aus der Bäckerei nach Hause, als das Telefon klingelt.

      „Hallo? Frau Schmidt? Hier ist Frau Rieck, Jaspers Klassenlehrerin. Haben Sie einen Moment Zeit für mich?“

      „Oh nein!“, flüstert Anne. In der Bäckerei war heute der Teufel los. Das sagt sie immer, wenn die Kunden sich vier Stunden lang die Tür in die Hand geben. Jetzt möchte sie nur noch die Spülmaschine ausräumen, den Eintopf in die Mikrowelle stellen, ihre Kleidung für heute Abend herauslegen und sich dann einen Moment hinlegen. Diesen Luxus gönnt sie sich nur an den Tagen, an denen der Kegelabend stattfindet. Das Telefonat stört sie einfach. „Wenn es nicht zu lange dauert, Frau Rieck.“ Anne bemerkt das kurze Zögern auf der anderen Seite. Hat die Lehrerin ihr spontan geflüstertes Nein gehört? Unmöglich!

      „Frau Schmidt, es ist wirklich wichtig. Jaspers Schulleistungen haben rapide nachgelassen, in allen Fächern und er beteiligt sich überhaupt nicht mehr am Unterricht. Es ist auch ganz untypisch für ihn, dass er seine Hausaufgaben nicht mehr erledigt.“

      Anne versucht, die Lehrerin zu unterbrechen. „Frau Rieck!“

      „Einen Moment bitte, Frau Schmidt, das ist ja noch nicht das Wichtigste. Jasper ist ständig so deprimiert, er macht einen richtig unglücklichen Eindruck auf mich. Ich habe schon mehrere Male vergeblich versucht, ein vertrauensvolles Gespräch mit Jasper zu führen. Er kann oder er will mir keinen Grund für seine Traurigkeit nennen, aber in seinen Aufsätzen gibt es so schrecklich düstere Andeutungen. Das macht mir richtig Angst.“

      Anne stöhnt. „Ich weiß, ich weiß, er ist auch zu Hause deprimiert, sitzt nur noch in seinem Zimmer und liest … Er schwafelt sogar von Selbstmord, wenn ihm was nicht passt, so ein Quatsch!“

      Frau Rieck ist fassungslos. „Wie furchtbar, Frau Schmidt! Was unternehmen Sie denn dagegen? Ich hoffe, Jasper ist in Behandlung, oder kann ich Ihnen mit einer guten Adresse für eine Therapie helfen?“

      Anne schmunzelt. „Wieso denn? Das ist doch nur Gerede, vielleicht eine harmlose Phase, mehr nicht. Aber Jasper braucht bestimmt keine Behandlung.“

      So schnell gibt Frau Rieck nicht auf, sie ist ernsthaft beunruhigt. „Frau Schmidt, was sagt denn Ihr Mann zu Jaspers Verhalten?“

      Langsam verliert Anne die Geduld. „Er sieht es selbstverständlich haargenau so wie ich, Frau Rieck. Und jetzt muss ich wirklich Schluss machen. Ich bin in Eile.“ Am anderen Ende der Leitung hört Anne hastiges Blättern.

      „Frau Schmidt, können wir das nicht in den nächsten Tagen noch einmal persönlich besprechen, vielleicht sogar gemeinsam mit Jasper? Ich kann Ihnen auch verschiedene Termine anbieten. Bitte, Frau Schmidt, ich halte das für ein ernstes Problem.“

      Anne sieht nervös zur Uhr. Gleich kommen schon Ina und Markus aus der Schule, dann hat sie keine Chance mehr, sich ein paar Minuten auf dem Sofa auszuruhen.

      „Nein, Frau Rieck, danke, wirklich nicht nötig. Wiederhören.“

      „Aber, Frau Schmidt!„

      Das Klicken in der Leitung unterbricht den zaghaften Versuch der Lehrerin, Jasper zu helfen.

      Zwei Monate früher

      Jasper sitzt in seinem Zimmer und weint. In allen wichtigen Klassenarbeiten hat er mangelhaft abgeschnitten und weil


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