Professors Zwillinge in der Waldschule. Else Ury
– machte die Tür. Sie schlug hinter der ersten Kinderzeit von Professors Zwillingen zu. Nun kam ein neuer Abschnitt ihres Lebens.
Frau Lehmann aus dem Parterregeschoß war auf ihren Balkon hinausgetreten, um den langjährigen Hausgenossen noch ein Lebewohl zuzuwinken. Auch der Papagei hatte sich zum Abschied eingefunden.
»Lebt wohl, Kinderchen, und denkt mal an uns hier zurück«, rief sie.
»Wir werden immer an Sie denken, wenn wir Krach machen, Frau Lehmann«, versprach Herbert.
Der Papagei aber sagte gar nichts, denn er war ja gemütskrank und konnte sich nicht mal darüber freuen, daß die kleinen Lärmmacher aus dem Hause kamen.
Auch der Steinzwerg unten im Vorgärtchen sagte nichts. Aber Suse hätte nie gedacht, daß sein lustiges Gesicht so betrübt dreinschauen könnte.
Herbert war gerade im Begriff, mit Laubfrosch und dem bellenden Bubi auf das Vorderrad des großen Möbelwagens zu klettern und von dort aus den Kutschersitz zu erklimmen, als der Vater ihn plötzlich am Schlafittchen hatte.
»Junge, jetzt wird hier nicht mehr herumgeturnt.«
»Ich turne doch nicht. Ich will doch nur auf den Bock. Komm, Suse, ich helfe dir.«
»Ja, was habt ihr denn da oben zu suchen?«
»Karle, Maxe und Fritze haben erlaubt, daß wir alle beide bei ihnen auf dem Bock sitzen dürfen«, verkündete Suse strahlend.
»Aber Kinder, seid ihr denn nicht gescheit!« Die Mutter wußte nicht, ob sie lachen oder ärgerlich sein sollte. »Wir fahren natürlich mit der Stadtbahn.«
»Was – Stadtbahn? Wenn wir umziehen? Das ist gar nicht richtig. Dann muß man doch mit dem Möbelwagen fahren«, empörte sich Herbert.
»Die Herren Ziehmänner haben es doch erlaubt. Da mußt du es auch erlauben, Muttichen«, bettelte auch Suse.
»Fritze, Karle und Maxe wissen überhaupt nicht, wo unsere neue Wohnung ist. Wenn wir ihnen nicht Bescheid sagen, fahren die sicher falsch«, machte Herbert noch geltend.
»Und Klaus und Steffie kommen doch auf den Balkon, um uns mit dem Möbelwagen vorüberfahren zu sehen.«
Aber trotz dieser wichtigen Gründe blieben die Eltern unerbittlich.
»Dann macht der ganze Umzug überhaupt keinen Spaß.« Da fing der große Junge doch wirklich an zu weinen, noch dazu auf der Straße. Suse half ihm dabei getreulich, denn sie war ja sein Zwilling.
So zogen die beiden weinend von ihrem alten Hause fort und sahen nicht, daß ihr Freund, der Steinzwerg, hinter ihnen ebenfalls nasse Augen hatte.
4. Kapitel. Die neue Wohnung
Wenn man neun Jahre alt ist, trocknen Tränen schnell. Die Stadtbahnfahrt quer durch Berlin war recht lustig, beinahe so schön wie die mit dem großen Möbelwagen. Überall konnte man den Leuten in die Fenster hineingucken. Hier saßen Kinder bei den Spielsachen, dort stand eine Köchin am Herd. In dem großen Bureau beugten viele Herren fleißig die Köpfe über Arbeitspulte. Da unten im Schulhof tobten Schulkinder während der Zwischenpause. Die Gedanken der Zwillinge flogen zurück zu ihrer Schule, von der sie gestern Abschied genommen. Jetzt war Geographiestunde bei Herrn Dr. Tiedemann. Eigentlich recht schade, daß sie die Himmelskunde nicht mehr mitnehmen konnten. Und den Klaus und die Steffie würden sie auch sehr entbehren. Mit wem die wohl jetzt in der Zwischenpause gingen?
In einem großen, schönen Hause, beinahe noch mal so groß wie das alte Haus in Treptow, war die neue Wohnung. Es wohnten sehr viele Mieter darin. Wenn die sich alle beklagten, wenn sie mal Radau machten, das konnte ja nett werden. Die erste Überraschung in dem neuen Hause war, daß man mit dem Fahrstuhl zu der im dritten Stockwerk gelegenen Wohnung emporfuhr. Herrlich! Allerdings wurde die Freude der Kinder dadurch etwas gedämpft, daß es ihnen nur erlaubt wurde, in Begleitung von Erwachsenen den Fahrstuhl zu benutzen. »Ihr habt junge Beine und springt die Treppen schnell hinauf und hinunter«, sagte der Vater.
Oben aber in der neuen Wohnung gab es noch eine Überraschung. Die kleine Omama empfing sie dort mit einem herzlichen »Willkommen im neuen Heim, meine lieben Kinder!« Und Frau Annchen, die ehemalige Kinderfrau von Professors Zwillingen, die zur Großmama, ihrer früheren Herrin, wieder zurückgekehrt war, als Herbert und Suse ihrer Pflege entwachsen waren, ja, Frau Annchen war auch da. Sie hatte Körbe mit fertig gekochtem Mittagessen mitgebracht, mit Tellern und Bestecks, denn in der neuen Wohnung gab es ja noch nichts. Eins aber hatte sie vergessen: daß auch noch Tisch und Stühle in der neuen Wohnung fehlten. Frau Annchen aber wußte sich zu helfen. Auf dem Küchenherd deckte sie ein weißes Tischtuch auf und richtete darauf das schnell gewärmte Essen an. Daß man dasselbe stehend einnehmen mußte, machte den Kindern besonders viel Spaß.
Die Wohnung war hell und geräumig. Sie hatte eine Loggia nach vorn heraus und einen Hinterbalkon. Von der Loggia sah man bis zu dem großen, schönen Platz, in den die Straße mündete.
»Fein ist's hier«, entschied Herbert, von ihrem neuen Reich Umschau haltend. Man sah hohe Häuser mit vielen Balkonen und Loggien, viele Dächer und Schornsteine und darüber ein Stück blauen, von weißen Flatterwölkchen übertuschten Frühlingshimmel.
»Fein!« echote Suse hinter dem Zwillingsbruder drein, obgleich sie eigentlich nicht recht einsah, was so fein sein sollte.
»Nun müssen wir uns die Welt vom Hinterbalkon ansehen, Suse.« Trotz der ängstlichen Mahnung der Omama, sich nur nicht zu erkälten, ging es trapp – trapp – über den Parkettfußboden durch die Zimmer. Bubi jagte mit lautem Blaffen hinterdrein. Er schien der Ansicht zu sein, daß die neue Wohnung nur für seine Bewegungsfreiheit als Sportplatz genommen worden sei. Denn er raste von hinten nach vorn und von vorn nach hinten, steckte die Nase in alle Ecken und schien sich in den neuen, leeren Räumen nicht viel behaglicher zu fühlen als Frau Professor Winter.
»Unsere Untermieter können sich gratulieren. Die werden denken, die wilde Jagd hat über ihnen ihren Einzug gehalten. Kinder, trampelt doch nicht so, man muß rücksichtsvoll sein«, mahnte der Vater.
»Jugend muß austoben.« Die Großmama entschuldigte immer ihre Lieblinge.
Der Vater war seinen Kindern auf den Hinterbalkon, der am Schlafzimmer lag, gefolgt. Hier war es ungleich freier als vorn. Über Bahngleise hinweg sah man auf Laubengelände bis zu einem dunklen Streifen.
»Das ist schon der Grunewald, Kinder.«
»Vati, was ist das für ein hoher Turm da neben dem flachen, großen Gebäude? Ist das eine Sternwarte?«
»Nein, Herbert. Das muß das Funkhaus sein.«
»Herrlich!« sagte der Junge und blickte mit glänzenden Augen von dem Eisenbahnnetz mit seinen vielen Signalen zu dem Funkhaus. »Mein Schulpult muß hier ans Fenster. Da kann ich immer alle Züge abnehmen und den Funkturm sehen und –«
»Und kann recht unaufmerksam bei den Schularbeiten sein und viele Fehler machen«, vollendete der Vater den Satz. »Im Sommer wird es hier draußen gewiß hübsch werden, wenn erst alles grünt und blüht. Aber nun kommt hinein, Kinder. Es weht ziemlich kühl über das freie Gelände. Unser Möbelwagen wird bald hier sein.« Der Professor zog seine Uhr.
»Glaubst du wirklich, Vati, daß die Männer bis hierher finden?« Herbert war recht zweifelhaft.
Die Omama schien seine Zweifel zu teilen. Auch sie war unruhig, wo denn nur die Möbel blieben. Ihr Sohn beruhigte sie, daß der Weg von Treptow bis »ans andere Ende der Welt« für den schweren Wagen mehrere Stunden in Anspruch nähme. Nichts ist ermüdender als Warten. Und noch dazu in leeren, unbehaglichen Räumen. Man wußte nichts mit der Zeit und mit sich selbst anzufangen. Die Arbeit drängte. Aber man konnte nichts unternehmen. Denn vorläufig waren das Froschglas, das Vogelbauer mit Mätzchen und die Schwarzwald-Lotti das einzige vorhandene Mobiliar. Frau Annchen hatte vom Portier Stühle besorgt, daß ihre Damen doch wenigstens nicht die ganze Zeit stehen mußten. Die waren aber viel zu unruhig, um unbeschäftigt sitzen zu bleiben. Sie gingen von Zimmer zu Zimmer und überlegten,