Briefe an einen toten DIchter. Agnès Rouzier
aber auch und vor allem, was erschüttert.
Die Sonne scheint auf eine Stadt und die Stadt ist nicht mehr Stadt, sondern Licht. Das Licht selbst. Das Wesen und das Sterben dieses Lichts. Endlos, dauerhaft, anderswo, auf immer gegenwärtig, dort, aber es gibt sich hin, verweigert sich, ist angeboten, ist gänzlich außerhalb der Materie.
Ich werde nicht müde zu sagen: du betrachtest, du berührst, du streichelst, was denn?
Die Dinge? Eine andere Seite deiner selbst.
Dein „eigener, stets gegenwärtiger Tod“.
Deine Hände. Zerbrechlich. Lebendig. Der Stoff. Deine Hände. Die Wörter.
Ein Blick. Beharrlich sagst du Ja, dann verschwindest du. Du löst dich auf.
Und dennoch nähern wir uns, und die Annäherung ist ganz und gar Bewegung. Halb nur angeboten, halb nur berechnet, doch empfangen.
Ich weiß nicht, wo ich gewesen bin, als ich deinen Brief gelesen habe.
Auch für mich war das Wort „Zimmer“ kein Zimmer, auch kein Dekor, auch nicht wahrhaftig: die Dinge beobachteten mich. Die Bewegung eines unbestimmten Schauens kam von ihnen zu mir. Sie allein besaßen Macht. Eine Art, allerdings nur eine Art zu sein: Abwesenheit.
Du hustest stark. Eine Gebärde kommt dir in den Sinn: das Hingeben (das Opfer) einer Hand, eine barocke Statue2.
Der ganze Himmel verändert sich.
Ich will mich bewegen. Ich will laufen. Ich und laufen. Ich, die Ruhe in der Bewegung, in der Bewegung der Wörter.
Unendlich viele Blicke sind zusammen getroffen. Wir haben gelernt, in jeder Bewegung inne zu halten. Nicht erstarrt, sondern beobachtend.
Kein Ort zum Verweilen, kein Ort zum Sein. Wie kann man also sagen: „ich“.
Und dennoch bist du genaugenommen „du“ gewesen. Der überlegt berechnete Weg, wo jeder Gedanke, jede Gebärde den eigenen Ort gefunden hat.
Auf dem Friedhof verliert die Schicht der Blätter allen Glanz, doch sie rascheln und rascheln weiter.
Der Blick bedeckt all dieses mit einer gleitenden, fast gierigen Bewegung, dennoch schon voller Verzicht.
Du?
Wie wird alles uns zur Dauer, wie wird alles für uns zerbrechlich.
Wir buchstabieren hier das Wort unendlich: das welke Laub. Eine Mauer.
Ein plötzliches Lachen, gerade hier, ein Lachen. Immer leichter: der Gedanke an Flucht. (Wie wichtig war es uns zu sagen: sanft. Die Sanftheit „par excellence“, diese Tat.)
Der Blick ist das Fließende.
Ich will, dass das Wort abreisen einen Sinn hat.
Eine barocke Statue als das wuchernde Leben des Todes. Und genau hier gibt sich die hingebende Hand3.
Weshalb kommen mir manchmal, wenn ich mich an dich wende, die Worte in den Sinn: ich will, ich will nicht mehr, ich löse mich auf, ich löse auf.
Nicht mehr weitergehen, hier bleiben, sein.
Sag mir, gibt es ein Wort, das lauter schreit als das Wort „sein“.
Hier finden sich jede Verformung, wie jedes Sein.
Ich möchte dir sagen: ja, du bist „wertvoll“, wertvoll, so wie man wild ist: du hast dich aufgespart für eine lange Bedrohung ohne Ausgleich: für „das Offene“.
Wie oft machst du mir manchmal Angst. Zittern, eine unmerkliche Erschütterung. Du redest mit leiser Stimme, mit besessener Eindringlichkeit. Du redest immer noch. Und du fügst ein Wort an ein völlig anderes Wort.
Vielleicht muss man ganz einfach sagen: ich will noch nicht, aber ich bin voller Sehnsucht.
Hier entsteht die Magie in ihrem schäumenden, übertriebenen Wesen.
„Die Dahlien von der Farbe alten Elfenbeins, die Blätter des Kohls“.
Aber schau! Schau doch!
Ich will, dass das Wort abreisen einen Sinn hat.
Kleists Grab. (Damit verbunden sehen wir Friedrichs Gebärde). Wir brechen zusammen. Aber nicht ganz. Und dieses „nicht ganz“ überwältigt uns. Ein Schrecken, manchmal auch ein richtiger Blick.
Ich möchte nie mehr lachen hören.
Nie hast du gelacht, so scheint es. Ich sehe nur ein Lächeln. Manchmal ein strahlendes Lächeln, aber es ist nur angedeutet, es ist kaum wahrnehmbar. Nirgendwo hast du einen Mittelpunkt. Manchmal musste dir Gewalt angetan werden.
Dir oder uns Gewalt antun? Wir können nicht mehr sprechen. Unsere Schritte werden unsicher, werden zur Irrfahrt. Nur zu diesem Preis sind wir, zu dir, Annäherung: Mitteilung, Lippe an Lippe.
Du schaust auf. Du gehst durch das Zimmer, gehst zum Fenster. Die Straße ist da, den Blumen gegenüber.
Ist dieser Austausch Freundschaft oder eher eine „verborgene“ zweiseitige Mitteilung?
Als würde man sich leicht bei den Händen berühren.
Ich will, dass das Wort abreisen einen Sinn hat.
Wir können alles aufzählen. Die Geduld ist geblieben.
„Die Dahlien von der Farbe alten Elfenbeins“.
„Kleists Grab“.
Die Unschuld: Abreisen, immer wieder.
Ich will, dass das Wort abreisen einen Sinn hat.
Wir sind gehorsam. Manchmal sind wir ausgeruht, wie Kinder, die aus dem Schlaf erwacht sind. Aber wir sind wachsam und auf der Hut.
Der Strauß Dahlien ist bereits nicht mehr nur reine Unschuld. Unmerklich wird er zur Bedrohung.
Bedrohung? Nein, nein. Wir sind gehorsam. Wir bleiben.
Ich will, dass das Wort abreisen einen Sinn hat: tausend Reisen.
Wir bleiben hier, bleiben, als seien wir nicht hier.
Kein einziges Wort bildet sich mehr: jedes so unwägbar wie die Abwesenheit. Ist es nicht das, was du mir in jedem deiner Briefe gibst: deine, diese Abwesenheit.
Ist es nicht das, was du uns zu schreiben lehrst.
Schreiben, noch bevor ich dir schreibe. Schreiben wie im Voraus.
Wie wichtig war es für uns, einander zu antworten, Gebärde auf Gebärde. Zwanghaft und unbefangen in der Scham: ich will, dass das Wort sich zurückziehen einen Sinn hat.
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