Widerstreit. Helmut Ortner
Sind staatliche Einschränkungen nur so weit legitim, als sie die Freiheit der anderen (besser: aller!) sichern? Oder ist die Beschneidung des individuellen Rechts ein Deal, bei dem der Staat im Gegenzug als eine Art Lebensversicherung fungiert? Sind die massiven grundrechtlichen Einschränkungen (Ausgangssperren, Bannmeilen, aber auch Impfungen) überhaupt noch verhältnismäßig? Oder schon demokratiegefährdend? Einigkeit ist nicht herzustellen. Während die einen – nicht unbedingt allein bekennende Corona-Leugner – dem Staat misstrauen, rufen andere nach ihm. Demokratie heißt Pluralismus, der kleinste Nenner: Pro und Contra. Davon lebt eine offene Gesellschaft.
Die PRO-Bürger: Der Staat soll Vormund sein
Also blicken wir auf die andere Seite, auf die staatstreuen »Pro«-Bürger. Sie sehnen sich nach harten Maßnahmen, klaren Vorgaben. Je länger die Pandemie dauert, um so mehr erwarten sie starke Führung und Autorität. Der Staat soll Vormund sein. Selbst ansonsten kritische (oder gleichgültige) Bürger applaudieren hier den staatlichen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr, verteidigen Verbote, Ausganssperren, Schul- und Theaterschließungen – kurzum: akzeptieren die Einschränkungen ihrer Grundrechte. Sie opfern gerne etwas Freiheit für den Sieg über das Virus. Und klar, Sie sind unbedingt für Impfpflicht, und dass die Bundeswehr zur Pandemiebekämpfung im Innern eingesetzt wird, und für eine Corona-App, die noch mehr Informationen zur Verfügung stellt, auch wenn es auf Kosten des Datenschutzes geht. Sie haben keine Bedenken gegen einen Obrigkeitsstaat. Vorwärts! Regieren und Entscheiden, wenn es sein muss ohne Parlament.
Mit sehnsüchtigen Augen blicken sie nach Fernost, wo die Pandemie mit Big-Brother-Methoden bekämpft wird. Sie bewundern China: großartig! Totalüberwachung aller Handydaten, Drohnen, Gesichtserkennung, Polizeigewalt – all das spielt offenbar weniger eine Rolle.
Der Schriftsteller Thomas Brussig etwa plädiert in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung dafür, in der Krise doch »Mehr Diktatur!« zu wagen. Das sei das Gebot der Stunde, denn: in einer Ausnahmesituation bedürfe es eben Ausnahme-Regeln. Das Virus zwinge uns, die Grundrechte temporär nicht ganz so wichtig zu nehmen und auf liebgewonnene Rituale zu verzichten. Die Demokratie mit all ihren Freiheiten und Grundrechten bleibe selbstredend der Regelzustand, so Brussig. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen ergibt sich für ihn schlichtweg aus der Frage nach ihrer Wirksamkeit. Denn das Geschehen werde durch einen Akteur dominiert, dem das alles egal ist: das Virus.
Man will dem Schriftsteller Brussig, der bislang mit Bestellern wie »Sonnenallee« und »Helden wie wir« bekannt wurde, zurufen: Ja, das Virus kennt keine Staatsform, es ist nicht unbedingt dazu geeignet, die Abschaffung des Rechtsstaats zu fordern und eine Diktatur auszurufen. »Es braucht auch keinen diktatorischen ›Ausnahmezustand‹, von dem der Autor weder sagt, wer ihn ausruft, noch wer oder was ihn beenden kann. Von wem sollte die Macht denn ausgehen, vom Robert-Koch-Institut und dem Kanzleramt? Oder von der bayerischen Staatskanzlei«, fragt in einer Antwort – ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung – der Zeithistoriker René Schlott.
Brussigs Sehnsucht nach einer vorübergehenden, kurzfristigen Diktatur findet seine Entsprechung im populären Ruf nach dem starken Mann. Nach dem geltenden Infektionsschutzgesetz sind derzeit zwei Dutzend freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Kraft. »Welche weiteren diktatorischen Anordnungen sollte es geben? Haft für Quarantänebrecher, verdachtsunabhängige Personenkontrollen mit zwangsweisen Schnelltests, Sprechverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln, soziale Kontakte nur nach behördlicher Anmeldung oder gleich die Abriegelung ganzer Städte?«, fragt René Schlott in seiner Brussig-Replik. Wir wollen festhalten: Wer wie Brussig leichtfertig (oder ist es historische Ahnungslosigkeit?) nach autoritären Maßnahmen des Staates ruft, dem ist unbedingt die Lektüre des Grundgesetzes empfohlen oder (ganz in ihrem Sinne klarer Vorgaben) als Pflichtlektüre verordnet.
Die Verfassungs-Bürger: Grundrechte verteidigen, um Kompromisse kämpfen
Heribert Prantl, Publizist und Jurist bleibt da nur Kopfschütteln. Der ehemalige Politikchef der Süddeutschen Zeitung will die Wirklichkeit nicht verleugnen, aber elementare Grundrechte verteidigen: die Freiheit der Person, die Bewegungsfreiheit, das Recht auf Kommunikation. »Was wir brauchen, ist nicht noch mehr Härte beim Lockdown, sondern mehr Differenzierung«, fordert er. Denn: Demokratie heißt nicht, alles über einen Kamm zu scheren. Und noch etwas macht ihm Sorgen: es entscheiden Gremien, die im Grundgesetz gar nicht vorgesehen sind. »Es gibt in der deutschen Rechtsordnung kein ›Konzil‹ der Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin. Es kann nicht sein, dass Merkel, Laschet und Söder hinter verschlossenen Türen entscheiden und dann sagen: Hier geht es jetzt lang.«
Prantl ruft nicht nach staatlicher Autorität und ordnungspolitischem Übereifer, im Gegenteil: er ängstigt sich um unsere Grundrechte. »Ich habe die Sorge, dass wir die Grundrechte opfern, um so vermeintlich der Pandemie Herr zu werden. Das Wesen der Grundrechte ist jedoch, dass sie gerade in einer Krise gelten müssen. Deswegen heißen sie Grundrechte.« Prantl fürchtet, dass gravierende Einschränkungen zur Normalität werden. Diese könnten auch als Blaupause verwendet werden: für das nächste Virus, für den nächsten Katastrophenfall.
Demokratie braucht Transparenz und Vertrauen. Das ist die Währung der Demokratie. Mangelt es daran, schafft das ein Klima des Misstrauens, der Angst, der Aggression. Notwendig ist ein kollektives Einverständnis, eine breite Zustimmung etwa zu Maßnahmen, die unsere Grundrechte einschränken. Darüber kann nicht allein die Regierung entscheiden, darüber muss in einem Rechtsstaat im Parlament geredet werden. Die Parlamente vertreten den Souverän. Sie sollten eigentlich der Ort der Diskussion sein, der politischen Debatte und am Ende der demokratischen Entscheidung. Dass dies unzureichend und zu spät geschehen ist, hatte und hat ungute Auswirkungen. Und wirkte als Beschleuniger für die verwirrten Querdenken-Proteste gegen die staatliche Pandemiebekämpfung.
Die Auseinandersetzung ist giftig geworden. Wir merken es alle. Das Virusgift hat auch den gesellschaftlichen Diskurs erfasst, es betrifft die Befürworter der Maßnahmen genauso wie die Gegner. Es wird verbissen gestritten, nicht diskutiert. Nicht Hinhören und Austauschen, sondern Abgrenzen und Ausgrenzen. Spaltung und Radikalisierung ist die Folge. Ein Mix aus Hass, Hetze und Beleidigung macht sich breit, vor allem in digitalen Echo-Räumen. Auch wenn es mühsamer ist, als mit Gleichgesinnten das eigene Weltbild zu pflegen, eine offene Gesellschaft braucht diese Räume.
Keine Frage: Die Stimmung im Lande ist angespannt. Natürlich stimmt es, dass wir seit einem Jahr Zeugen und Betroffene einer alle Lebensbereiche umfassenden Politik der Grundrechtsbegrenzungen sind. Kaum ein Grundrecht des Grundgesetzes, das durch infektionsschutzrechtliche Interventionen nicht betroffen wäre: die allgemeine Handlungsfreiheit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht, die Freiheit der Person, die Religionsfreiheit, die Kunstfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Berufsfreiheit und die Eigentumsgarantie, das Asylgrundrecht. Prantls Warnrufe sollten gehört und diskutiert werden.
Dennoch: weder sind wir auf dem Weg in einen »faschistoiden Hygienestaat« (eine geschichtsvergessene Terminologie), noch entledigt sich das Parlament durch ein »Ermächtigungsgesetz« (auch dieses Wort ist ein Missgriff) seiner Verantwortung, aber den Bürgern wird viel zugemutet: Kontaktbeschränkung, Reisebeschränkung, finanzieller Ruin. Am Düsseldorfer Rheinufer durfte man nicht mal mehr stehen bleiben: »Verweildauerverbot« nannte sich diese Anordnung und Polizei und Ordnungsämter waren beauftragt, Verstöße mit einem Bußgeld zu ahnden. Bislang ertrug der disziplinierte Verfassungs-Bürger das alles meist stoisch. Er ist auch in Vorleistung gegangen: mit Hygienekonzepten, Disziplin, Verständnis. Im gleichen Zeitraum kann die Bundesregierung für sich allenfalls ins Feld führen, die schnelle Entwicklung von Impfstoffen wenigstens nicht aktiv verhindert zu haben.
Alle Instrumente, den Krisenzustand zu beenden, liegen mittlerweile auf dem Tisch: Impfen, Testen, digitale Kontaktverfolgung. Doch es herrscht eine organisierte Zuständigkeits-Diffusion zwischen Bund und den Ländern. In der Jahrhundertkrise wird die Republik von einem Siebzehner-Direktorium geleitet, das nirgendwo im Grundgesetz vorgesehen ist. Die Rollenverteilung zwischen Bund und Ländern, zwischen Regierung und Opposition, zwischen Exekutive und Legislative verschwindet zusehends. In diesem Verantwortungsnebel will keiner die Verantwortung dafür tragen, wenn etwas schief läuft. »Statt sich darauf zu konzentrieren, wie die Lockdown-Maßnahmen