Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
Glieder in der Übertragungskette innerhalb der Familie, Gemeinschaft oder Gesellschaft unterbrechen. Eltern Vorwürfe zu machen, ist in emotionaler Hinsicht herzlos und wissenschaftlich falsch. Alle Eltern tun ihr Bestes, nur ist unser Bestes durch unser eigenes ungelöstes oder unbewusstes Trauma begrenzt. Das ist es, was wir unwissentlich unseren Kindern vererben, so wie ich es selbst getan habe. Die gute Nachricht in diesem Buch, wie auch in vielen anderen Quellen, ist, dass Traumata und Trennungen von der Familie geheilt werden können. Unter den richtigen Bedingungen, so wissen wir heute, kann sich das Gehirn selbst heilen.
Ich vertraue darauf, dass Im Reich der hungrigen Geister auch weiterhin viele Menschen erreicht, um seine heilende Botschaft zu vermitteln, die auf emotionalen, psychologischen, sozialen und wissenschaftlichen Wahrheiten beruht. Wahrheit, wie wir wissen, bringt Freiheit, auch wenn sie Schmerz hervorrufen kann.
Süchte entstehen durch verhinderte Liebe, durch unsere blockierte Fähigkeit, Kinder so zu lieben, wie sie geliebt werden müssen, durch unsere blockierte Fähigkeit, uns selbst und einander so zu lieben, wie wir alle es brauchen. Die Öffnung unserer Herzen ist der Weg zur Heilung von Sucht – die Öffnung unseres Mitgefühls für den Schmerz in uns selbst und den Schmerz um uns herum.
Gabor Maté, Vancouver, April 2018
PS: In Downtown Eastside gehen die Tragödien und Wunder weiter. „Serena“, deren Geschichte in Kapitel 4 erzählt wird, starb kurz nach der Veröffentlichung von Im Reich der hungrigen Geister an einem HIV-induzierten Hirnabszess. „Celia“, die in Kapitel 5 schwanger ist, ist auf wundersame Weise wieder mit einer Tochter zusammengekommen, die sie vor drei Jahrzehnten zur Adoption freigegeben hatte. Es wird niemanden überraschen, dass die Tochter – die das Buch ursprünglich gelesen hatte, ohne zu erkennen, dass ihre Mutter darin dargestellt wurde – selbst mit Sucht zu kämpfen hat. Sie lebt in Ottawa und steht regelmäßig mit mir in Kontakt, während sie Schritte zur Genesung unternimmt. Ich hoffe, dass sie dem Schicksal ihrer Mutter entgehen kann.
* Der weltweit erste betreute Drogenkonsumraum wurde 1986 in Bern eröffnet. Im Jahr 1994 entstand in Hamburg Deutschlands erster Konsumraum, in dem Süchtige mit sauberen Spritzen versorgt werden.
Die hungrigen Geister:
Im Reich der Süchte
Der Cassius dort hat einen hohlen Blick.
WILLIAM SHAKESPEARE
Julius Cäsar
Das buddhistische Lebensrad in Gestalt eines Mandalas durchläuft sechs Bereiche. Jeder Bereich wird von Charakteren bevölkert, die Aspekte der menschlichen Existenz repräsentieren – unsere verschiedenen Wege des Seins. In der Welt der Tiere werden wir von grundlegenden Überlebensinstinkten und Begierden wie physischem Hunger und Sexualität getrieben, dem, was Freud das Es nannte. Die Wesen des Höllenreichs sind in Zuständen unerträglicher Wut und Angst gefangen. In der Welt der Götter transzendieren wir unsere Sorgen und unser Ego durch sinnliche, ästhetische oder religiöse Erfahrungen, aber nur vorübergehend und in Unkenntnis der spirituellen Wahrheit. Selbst dieser beneidenswerte Zustand ist von Verlust und Leid geprägt.
Die Bewohner der Welt der Hungergeister werden als Kreaturen mit dürren Hälsen, kleinen Mündern, abgemagerten Gliedmaßen und großen, aufgeblähten, leeren Bäuchen dargestellt. Dies ist der Bereich der Sucht, in dem wir ständig nach etwas außerhalb von uns selbst suchen, um die unstillbare Sehnsucht nach Erlösung oder Erfüllung zu dämpfen. Die schmerzende Leere ist immerwährend, weil die Substanzen, Objekte oder Bestrebungen, von denen wir hoffen, dass sie sie lindern, nicht das sind, was wir wirklich brauchen. Wir wissen nicht, was wir brauchen, und solange wir uns im Zustand der hungrigen Geister befinden, werden wir es nie wissen. Wir geistern durch unser Leben, ohne vollständig präsent zu sein.
Manche Menschen verbringen einen Großteil ihres Lebens in dem einen oder anderen Bereich. Viele von uns bewegen sich zwischen ihnen hin und her, vielleicht sogar durch alle hindurch, im Laufe eines einzigen Tages.
Meine medizinische Arbeit mit Drogensüchtigen in Vancouvers Stadtteil Downtown Eastside hat mir die einzigartige Gelegenheit gegeben, Menschen kennenzulernen, die fast ihre ganze Zeit als Hungergeister verbringen. Es ist ihr Versuch, so glaube ich, dem Höllenreich mit seiner überwältigenden Angst, Wut und Verzweiflung zu entkommen. Die schmerzhafte Sehnsucht in ihren Herzen spiegelt etwas von der Leere wider, die auch Menschen mit einem scheinbar glücklicheren Leben erfahren können. Diejenigen, die wir als „Junkies“ abtun, sind keine Geschöpfe aus einer anderen Welt, sondern nur Männer und Frauen, die am äußersten Ende eines Kontinuums feststecken, auf dem wir uns alle hier oder dort durchaus wiederfinden könnten. Das kann ich persönlich bezeugen. „Sie schleichen mit einem hungrigen Blick um Ihr Leben herum“, sagte einmal jemand zu mir, der mir nahestand. Angesichts der schädlichen Zwänge meiner Patienten musste ich mich mit meinen eigenen auseinandersetzen.
Keine Gesellschaft kann sich selbst verstehen, ohne ihre Schattenseiten zu betrachten. Ich glaube, dass allen derselbe Suchtprozess zugrunde liegt, sei es der Abhängigkeit meiner Downtown-Eastside-Patienten von tödlichen Substanzen, der verzweifelten Selbstbefriedigung durch übermäßiges Essen oder dem zwanghaften Shoppen, der Besessenheit von Spielern, Sexsüchtigen und zwanghaften Internetnutzern oder dem gesellschaftlich akzeptablen und sogar bewunderten Verhalten von Workaholics. Drogensüchtige werden oft abgelehnt und abgewertet, als verdienten sie kein Mitgefühl und keinen Respekt. Mit dem Erzählen ihrer Geschichten verfolge ich eine doppelte Absicht: Ich möchte dazu beitragen, dass ihre Stimmen gehört werden, und ich möchte Licht bringen in den Ursprung und das Wesen ihres unglückseligen Kampfes um die Überwindung ihres Leidens durch Drogenmissbrauch. Sie haben viel gemeinsam mit der Gesellschaft, die sie ausgrenzt. Auch wenn sie scheinbar einen Weg ins Nichts gewählt haben, haben sie uns anderen noch viel beizubringen. Im dunklen Spiegel ihres Lebens können wir unsere eigenen Umrisse erkennen.
Es gibt eine Reihe von Fragen, die zu berücksichtigen sind, zum Beispiel:
• Was sind die Ursachen von Süchten?
• Was ist das Wesen der suchtgefährdeten Persönlichkeit?
• Was geschieht physiologisch in den Gehirnen von Suchtkranken?
• Wie viele Wahlmöglichkeiten hat der Süchtige wirklich?
• Warum ist der „Kampf gegen Drogen“ ein Fehlschlag und was könnte ein humaner, evidenzbasierter Ansatz zur Behandlung schwerer Drogenabhängigkeit sein?
• Wie könnten einige Süchtige, die nicht von starken Substanzen abhängig sind, erlöst werden – das heißt, wie nähern wir uns der Heilung der vielen Verhaltensabhängigkeiten, die durch unsere Kultur gefördert werden?
Die erzählerischen Passagen in diesem Buch basieren auf meinen Erfahrungen als Arzt im Drogenghetto von Vancouver und auf ausführlichen Interviews mit meinen Patienten – von denen es mehr gibt, als ich anführen kann. Viele von ihnen haben sich freiwillig gemeldet, in der großzügigen Hoffnung, dass ihre Lebensgeschichte anderen helfen könnte, die mit Suchtproblemen zu kämpfen haben, oder dass sie dazu beitragen könnten, die Gesellschaft über Suchterfahrung aufzuklären. Ich präsentiere auch Informationen, Reflexionen und Einsichten, die ich aus vielen anderen Quellen gewonnen habe, einschließlich meines eigenen Suchtmusters. Und schließlich biete ich eine Synthese dessen, was wir aus der Forschungsliteratur über Sucht und die Entwicklung des menschlichen Gehirns und der Persönlichkeit lernen können.
Obwohl die Schlusskapitel Gedanken und Anregungen zur Heilung des süchtigen Geistes bieten, ist dieses Buch keine Anleitung. Ich kann nur sagen, was ich als Mensch gelernt habe, und beschreiben, was ich als Arzt erlebt und begriffen habe. Nicht jede Geschichte hat ein Happy End, wie der Leser herausfinden wird, aber die Entdeckungen der Wissenschaft, die Lehren