Seewölfe - Piraten der Weltmeere 504. Burt Frederick
abermaliger Rammstoß dröhnte den beiden Männern entgegen, als sie den von Balkenverstrebungen durchkreuzten Raum betraten. Wieder splitterte Holz.
Ernesto hatte eine Laterne aus dem oberen Korridor mitgebracht. Furchtlos begann er, die Querbalken und die Stützbalken jenes Fensters abzuleuchten, durch dessen entstehende Ritzen der Fackelschein von außen drang.
Im Obergeschoß krachte die Muskete. Wutgebrüll der Kerle und schrilles Kreischen der Hafenweiber waren die Antwort. Gleich darauf erfolgte ein wildes Geknatter von Pistolenschüssen. Ein Schmerzensschrei innerhalb des Hauses ertönte, dann folgte der dumpfe Laut eines hinschlagenden Körpers. Gleich darauf waren wieder Schreie zu hören – die Stimmen Ricardas und Amatas, voller Entsetzen.
Draußen wechselte das Gebrüll von Wut zu Triumph.
Einen Atemzug lang sah Ernesto seinen Herrn erschrocken an. Das Licht, das durch die Ritzen der inneren Balkenlage des zerstörten Fensters drang, warf schmale rötliche Streifen auf sein Gesicht.
„Señor“, sagte der Diener heiser, „würden Sie die Laterne halten?“
Felipe Herrera nickte nur, folgte der Aufforderung und beobachtete Ernesto, wie er einen schweren Hammer vom Fußboden aufhob und die Stützbalken fester schlug. Das Gebrüll der Plünderer steigerte sich. Der nächste donnernde Rammstoß übertönte es, schien es auszulöschen. Das Donnern setzte sich in einem Prasseln und Krachen fort. Die oberen Balken hinter dem getroffenen Fenster flogen weg wie morsche Hölzer.
Ohne einen Laut stürzte Ernesto zu Boden, von zwei oder drei Balken gleichzeitig getroffen. Nur noch der untere Teil der Balkenverstrebungen hielt stand.
Mit weit aufgerissenen Augen sah Felipe Herrera, was geschah. Noch immer hielt er die Laterne, und er stand wie erstarrt.
Sein Diener rührte sich nicht mehr. Über ihm flutete Fackelschein durch die entstandene Öffnung. Ein Viertel des Baumstammes, den die Kerle als Ramme benutzt hatten, ragte herein. Beinahe andächtig war die draußen einkehrende Stille.
Gesichter bewegten sich rund um den Stamm. Dreckstarrende, stoppelbärtige Gesichter mit gierigen Augen. Wüste Visagen voller Siegesgewißheit. Sie schienen eine Weile zu brauchen, um ihren Erfolg zu begreifen.
Mit starrem Blick, wie in Trance, löschte Herrera die Laterne und stellte sie auf den Boden. Dann hob er die Pistole und feuerte in die Fensteröffnung. Das Krachen des Schusses, innerhalb der vier Wände um ein Vielfaches verstärkt, ließ seine Ohren schmerzen. Aber das Ergebnis glich alles aus. Es war, als hätte der Mündungsblitz die Schreckensfratzen aus dem Fensterloch weggefegt.
Doch im nächsten Augenblick setzte das Geheul ein. Ihre Stimmen hatten jetzt fast nichts Menschliches mehr. Sie waren wie Wölfe, die im Rudel das sichere Opfer umkreisten und sich gegenseitig zerfleischten, ehe sie zum letzten, alles entscheidenden Angriff übergingen.
Der Pistolenschuß hatte ihre Blutgier nur noch mehr erregt.
Herrera beugte sich todesmutig über seinen Diener, obwohl das entstandene Loch zum Greifen nahe war. Er tastete nach dem Herzschlag Ernestos, aber da war nur noch Reglosigkeit. Im nächsten Moment sah Herrera die gebrochenen Augen des treuen Gefährten, und ihn überfiel ein unbändiger Zorn. Er riß die beiden Pistolen unter Ernestos Gurt hervor.
Die erste Kugel jagte er in eine von rotem Haarwust umrahmte Visage, die – vom Geschrei der Meute angefeuert – in der Öffnung auftauchte. Ein gellender Todesschrei war die Folge. Die Visage verschwand, und für Augenblicke wurde es still.
Felipe Herrera ließ die leergeschossene Pistole fallen und wich mit der noch geladenen Waffe vom Fenster weg.
Die Hölle brach los.
Die brüllenden und kreischenden Stimmen wuchsen zu einem Orkan der Wut an. Der Rammbock wurde zurückgerissen, und Schüsse krachten. Herrera reagierte nicht schnell genug auf die Mündungsblitze, die in den Raum zuckten. Jäher Schmerz durchstach ihn von der Körpermitte her. Erschrocken starrte er auf das Blut, das aus einer Wunde über der rechten Hüfte sickerte und seine Kleidung tränkte.
Der Schmerz wich seiner neu aufflackernden Entschlossenheit. Er ließ sich fallen, feuerte im Liegen und schaffte es noch einmal, die herandrängende Horde zurückzuschlagen.
Doch sofort darauf krachten abermals Schüsse, und er war gezwungen, vor den hereinrasenden Kugeln in den Korridor zurückzuweichen. Er ließ die Pistole liegen. Die Schüsse verebbten, ihnen folgte das Gebrüll, das sich erneut steigerte.
Herrera schaffte es, sich aufzurichten. Der Schmerz, auf den er wartete, setzte noch nicht wieder ein. Er begann, die Treppenstufen hochzusteigen.
Im Kontor reckten sich gierige Hände und Arme durch die Fensteröffnung und rissen die noch vorhandenen Stützbalken weg. Herrera sah nicht, wie sich das Loch vergrößerte, doch er hörte das Poltern der fallenden Balken. Das Geschrei erfaßte das Innere des Hauses. Wie eine alles verschlingende Brandung strömten die wüsten Stimmen in das Haus und ergriffen von ihm Besitz, noch bevor es von seinem Eigentümer vollends aufgegeben war.
Felipe Herrera wußte, daß es vorbei war.
Eine seltsame Gefühllosigkeit erfaßte seine Beine. Er bewegte sich schwer und mühsam, als er das obere Stockwerk erreichte. Die beiden jungen Frauen standen da, regungslos, mit Pistolen in den Händen. Ugo lag auf dem Boden beim Fenster, blutüberströmt.
„Nach oben!“ befahl Herrera. „Schnell! Gebt mir eine Waffe!“
Ricarda und Amata gehorchten, gaben ihm eine geladene Pistole in die Hand und stützten ihn auf dem Weg zur Dachkammer. Der Lärm der grölenden und kreischenden Stimmen hatte das Erdgeschoß überflutet, der Nachhall umhüllte die Fliehenden, die doch wußten, daß es kein Entrinnen gab.
Stützbalken und Möbel polterten. Wertvolles Geschirr zerschellte, silbernes Besteck klirrte aus herausgerissenen Schubladen. Felipe Herrera sah vor seinem geistigen Auge, wie sie die Ölgemälde von den Wänden rissen und zerfetzten, wie sie mit ihren Dolchen und Säbeln die Polster der Sessel und Sofas zerschlitzten.
Sie erreichten die Dachkammer, wo Mercedes Herrera und die beiden kleinen Töchter auf die Knie gesunken waren und beteten. Felipe Herrera ging zu seiner Frau und den Kindern und nahm sie in die Arme. Mit der Rechten hielt er die Pistole. Auch Ricarda und Amata schmiegten sich eng an die Kinder, die sie seit ihrer Geburt liebgewonnen hatten.
Die Brandung der Gewalt brüllte durch das Haus.
Drei Pistolenschüsse aus der Dachkammer klangen dünn und unbedeutend und vermochten diese Brandung nicht zurückzuwerfen.
Im Morgengrauen des 9. Juli bestand das Haus der Familie Herrera nur noch aus Mauern, Fußböden und dem Dach. Es gab nichts, was die Plünderer zurückgelassen hatten. Nur die Toten blieben. Der neue Tag sah Havanna als eine Stadt des Todes. Die wüsten Horden zogen sich bei Licht in ihre Rattenlöcher zurück, um den Rausch von Alkohol und Blut- und Beutegier auszuschlafen.
Havanna war an diesem Tag endgültig zu einer Geisterstadt geworden.
Für den Mob hatte mit einkehrender Helligkeit die Schlafenszeit begonnen, und so lastete fast völlige Stille in den Straßen und Gassen zwischen Hafen und Residenz. Alle Ordnungskräfte hatten sich endgültig zurückgezogen.
Die Überlebenden aus den Reihen von Miliz und Stadtgarde befanden sich bei den evakuierten Bürgern in der Gouverneursresidenz. Capitán Marcelo litt noch immer an den Folgen seiner Verwundung, war häufig bewußtlos und somit kaum in der Lage, die Befehlsgewalt voll auszuüben.
Der Primer Teniente Echeverria, einer seiner Stellvertreter, hatte diese Funktion übernommen und war damit beschäftigt, den Verteidigungszustand der Residenz zu verbessern. Die übrigen, ausschließlich jungen Offiziere unterstützten ihn, so gut es ging. Aber man wagte nicht mehr, Patrouillen oder Streifen in die Stadt zu schicken.
Es gab eine Art Niemandsland – jenes Stadtgebiet zwischen Hafen und Residenz, das die Marodeure zwar ausgeplündert hatten, aber nicht besetzt hielten. Tagsüber zogen sie sich aus den Gebieten zurück, die zu normalen Zeiten die