Seewölfe - Piraten der Weltmeere 273. John Curtis
Korsarin, oder auch Jean Ribault, dem Franzosen. Oder auch ganz allein, wenn der Wikinger den Hafen von Tortuga angelaufen hatte, um Versorgungsgüter für die Schlangeninsel oder für sein Schiff zu übernehmen, die Diego ihm vom Festland besorgt hatte.
Der Wikinger hatte das Vorschiff erreicht. Er stand da wie ein Baum und starrte aus zusammengekniffenen Augen auf die Schaluppe und auf den Mann, der sich an Deck der Schaluppe befand. Dann stieß er einen ellenlangen Fluch aus. Denn es handelte sich tatsächlich um den dikken Schildkrötenwirt, der zu seinen engen Freunden zählte. Aber Herr des Himmels, des Donners und der Blitze – wie, zum Teufel, sah Diego aus!
Die Schaluppe trieb jetzt unter dem Bug von „Eiliger Drache über den Wassern“ vorbei. Thorfin Njal sprang. Das Deck der Schaluppe ächzte unter dem Aufprall des schweren, hünenhaften Mannes, aber Thorfin Njal kam gerade noch rechtzeitig, um den wankenden, blutüberströmten Diego aufzufangen, bevor er bewußtlos auf die Planken sank.
Thorfin hielt den schweren Diego mit einer Leichtigkeit, als hätte er lediglich das Gewicht einer Feder. Dann aber wandte er sich um und brüllte die Männer an Deck des Schwarzen Seglers an.
„Ho, ihr verdammten und verlausten Affenärsche, steht nicht rum und haltet Maulaffen feil, sondern werft mir einen Tampen zu. Beeilt euch, oder ich werde euch Beine machen!“
Es war völlig unnötig, daß der Wikinger seine Männer anbrüllte, denn er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da sauste bereits ein Tampen vom Hauptdeck herab, da zog man die schwere Schaluppe Diegos bereits längsseits und machte sie fest.
Der Wikinger schlang den Tampen unter den Armen des Bewußtlosen hindurch um den Brustkasten Diegos, und gleich darauf hievten ein paar Männer seiner Crew den Schildkrötenwirt an Deck.
„Rum!“ brüllte Thorfin Njal, während er selber an Deck enterte. „Gebt dem armen Teufel eine gehörige Portion Rum, damit er wieder zu sich kommt. Er wird mir sagen müssen, wer ihn so zugerichtet hat, und den holt dann der Teufel. Der Kerl wird sich wünschen, nie geboren worden zu sein!“
Sooft die Männer des Schwarzen Seglers auch manchmal heimlich und hinter dem Rücken des Wikingers über seine Schrullen lachten – aber das, was er in diesem Moment sagte, das nahm an Bord jeder ernst, weil jeder wußte, wie ernst der Wikinger das meinte.
Thorfin kniete neben Diego, den man auf die Decksplanken gebettet hatte. Dann begann er vorsichtig, dem Bewußtlosen Rum einzuflößen, der ihm in einem großen Becher gereicht wurde.
Erst in diesem Augenblick sah der Wikinger richtig, wie übel man Diego mitgespielt haben mußte.
„Man hat ihn gefoltert, weil man irgend etwas aus ihm herausholen wollte. Und Diego befand sich auf dem Weg zur Schlangeninsel, denn wohin sollte er wohl sonst mit seiner Schaluppe segeln …“
Der Wikinger sprach nicht aus, was er in diesem Moment dachte, aber die Gesichter der Männer, die ihn und Diego in diesem Moment umstanden, sagten ihm überdeutlich, daß sie genau wußten, woran er dachte. Und plötzlich spürte der Wikinger, wie sich in seinem sonst so robusten Magen ein dicker Knoten zu bilden begann. Für ihn stets ein Zeichen nahenden Unheils.
Es dauerte eine ganze Weile, bevor Diego sich wieder zu rühren begann. Aber dann öffnete er seine Augen, blickte um sich und erkannte den Wikinger, der sich besorgt über ihn beugte.
Diego schloß die Augen wieder.
„Also doch!“ murmelte er. „Ich habe also doch noch richtig gesehen. Es war der Schwarze Segler …“
Natürlich hatte der Wikinger diese Worte auch vernommen. Er beugte sich zu Diego noch weiter herab, schob ihm seine gewaltige Rechte unter den Rükken und richtete ihn behutsam auf.
„Klar hast du richtig gesehen, Diego!“ sagte er, und seine Stimme klang dabei wie ferner Donner, der ein bevorstehendes schweres Gewitter ankündigt. „Ich glaube, wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen. Wer, bei allen Teufeln der Hölle, hat dich so zugerichtet?“
Das half. Ein energischer Ruck ging durch den schweren Körper des Schildkrötenwirts. Er setzte sich auf und stemmte beide Hände gegen die Planken des Hauptdecks. Dann stand er auf. Ächzend zwar, aber doch.
Er blickte den Wikinger an, und plötzlich lief ein Grinsen über sein zerschundenes Gesicht.
„Ho“, sagte er und verfiel dabei in den Ton des Wikingers. „Und ob ihr rechtzeitig gekommen seid. Los, gib mir noch einen Schluck Rum, Wikinger, dann werde ich euch berichten, was auf dieser dreimal verfluchten Schildkröteninsel geschah.“
Der Wikinger reichte ihm den gewaltigen Becher, und Diego setzte ihn an die Lippen. Er nahm einen langen Zug, bevor er den Becher wieder absetzte.
„Ah, das tut gut!“ sagte er und wischte sich den Rum von den Lippen. Dann blickte er den Wikinger und die Männer des Schwarzen Seglers an, die einen Kreis um ihn gebildet hatten und ihn voller Erwartung ansahen.
„Nein, nicht hier, Diego. Wir gehen aufs Achterdeck, und alle kommen mit!“
Er nahm den dicken Schildkrötenwirt beim Arm und zog ihn mit sich fort. Dann dirigierte er ihn die Stufen zum Achterdeck hinauf und schob den Widerstrebenden schließlich in den riesigen Sessel, auf dem er normalerweise selber zu sitzen pflegte.
„So ist’s besser, Diego. Du wirst eine Menge zu berichten haben, und nach Stehen ist dir bestimmt noch nicht zumute. Hölle und Teufel, du siehst aus, als habe man dich gekielholt oder etwas verdammt Ähnliches mit dir angestellt!“
Er ließ sich abermals den mit Rum gefüllten Becher reichen und bot ihn Diego dar. Und der nahm wiederum einen gewaltigen Schluck.
„So, und jetzt erzähle“, forderte ihn der Wikinger auf, nachdem er sich vergewissert hatte, daß die meisten Männer des Schwarzen Seglers sich um den Sessel auf dem Achterdeck versammelt hatten.
Diego nickte.
„Also, das war so“, begann er. „Seit der letzten Schlacht auf der Schlangeninsel herrschte Ruhe auf Tortuga. Natürlich war die Insel wie immer Treffpunkt und Zufluchtsstätte von allerlei Piratengesindel und Schnapphähnen, die wer weiß woher auf die Insel kamen und sich dort niederließen, aber einen Burschen mit den Qualitäten eines Caligu oder Don Bosco oder wie diese Kerle alle hießen, die hat es seitdem nicht mehr gegeben. Es ließ sich also leben, besser denn je zuvor. Meine Geschäfte liefen gut, die Piraten machten hin und wieder Beute, wurden ihrer zu viele, so regulierten sie das selber, indem sie sich gegenseitig die Schädel einschlugen oder einander die Hälse abschnitten. Es ist so mancher gegen Morgen die Totenrutsche zur Haibucht hinabgesaust, der am Abend noch soff wie drei Mann zusammen und das große Maul hatte. Normale Zustände für Tortuga, wie ihr alle wißt.“
Der Wikinger und die anderen Männer nickten. Nur der Stör konnte es wieder nicht lassen.
„Zustände“, echote er in das allgemeine und erwartungsvolle Schweigen hinein, und damit traf er zweifelsohne den Nagel auf den Kopf.
„Weiter, Diego. Was geschah dann?“ drängte Arne, der unmittelbar neben dem Schildkrötenwirt stand. Aber Diego ließ sich abermals den Becher reichen, der inzwischen seine Runde durch die Männer gemacht hatte und wie von Geisterhänden immer wieder aufgefüllt worden war. Erst nachdem er abermals einen langen Schluck genommen und sich mit dem Arm über die Lippen gefahren war, fuhr er fort:
„Das alles änderte sich schlagartig heute vor genau vier Tagen, und zwar eine Stunde vor Sonnenaufgang. Ich sah die verdammten Kerle schon, als sich ihre Mastspitzen gerade erst über die Kimm schoben. Und, verflucht, ich hatte dabei ein ganz lausiges Gefühl in der Magengrube. Das könnt ihr mir glauben. Kurz und gut – eine Stunde nach Sonnenaufgang liefen sie in den Hafen von Tortuga ein. Insgesamt sechs spanische Galeonen, zwei davon stark armiert und ganz offensichtlich dazu ausersehen, die anderen Schiffe vor eventuellen Angreifern zu schützen.“
Wieder machte der Schildkrötenwirt eine Pause.
„Spanier? Sagtest du Spanier, Diego?“ fragte der Wikinger dazwischen, und seine Brauen schoben sich drohend zusammen.
„Ja,