Seewölfe - Piraten der Weltmeere 234. Roy Palmer
aus und hastete zur Tür des Hauptgebäudes. Melinda war auf den Beinen und folgte ihr. In fieberhafter Eile steckte sie den Schlüssel, den sie dem ohnmächtigen Wächter zusammen mit dem Säbel und dem Messer abgenommen hatte, ins Schloß und drehte ihn zweimal um.
Sieglinde drückte die Klinke nach unten und lehnte sich gegen die Tür. Endlich schwang sie auf. Melinda zwängte sich als erste durch den Spalt. Sieglinde folgte ihr und raunte ihr zu: „Zieh den Schlüssel ab und riegle von innen wieder zu.“
„Dios“, hauchte die Spanierin. „Mein Gott, ich – denke daran, was passiert, wenn sie uns dabei erwischen.“
„Laß sein, ich erledige das selbst.“ Mit einem Ruck riß die blonde Deutsche den Schlüssel aus der Tür, ließ die Tür ins Schloß gleiten, steckte den Schlüssel von der anderen Seite wieder hinein und drehte ihn energisch um. Den Säbel hatte sie sich unter den rechten Arm geklemmt. Mit der linken Hand hielt sie immer noch den kupfernen Kerzenständer.
Sie nahm den Schlüssel wieder an sich, drehte sich um und hastete Melinda nach, die bereits über den breiten, spiegelblank geputzten Flur lief, der sich vor ihnen öffnete.
Sie vernahmen Schritte und versteckten sich in einem der angrenzenden Zimmer. Sieglinde drückte die Tür vorsichtig hinter sich zu. Sie lehnte sich dagegen und lauschte wie Melinda den tappenden Schritten, die sich eilig an ihnen vorbeibewegten.
„Ich habe einen Schrei gehört!“ rief jemand. „Wer war das?“
Er erhielt keine Antwort. Die Männer, die ihm folgten, wußten genausowenig wie er selbst.
„Mechmed, der Hundesohn von einem Berber“, murmelte Sieglinde. „Wenn der uns erwischt, geht es uns wirklich schlecht. Melinda – wo bist du?“
„Hier. Komm doch.“
Sieglinde schlich dem Klang der Stimme nach. Sie stellte den Kupferleuchter auf einem niedrigen Schrank ab, tastete sich weiter und langte bei Melinda an, die aufgeregt nach ihrem Arm griff.
„Dieses Zimmer hat keine Fenster“, flüsterte die Spanierin. „Aber es gibt einen Nebenraum. Hier – hier ist die Tür.“
Sie öffnete sie, und jetzt konnten sie das Mondlicht sehen, das schal durch die gestreiften Läden der Fenster fiel. Melinda eilte durch den Raum auf eins der Fenster zu und stolperte um ein Haar über ein großes Kissen, das auf dem Boden lag.
Dann war sie am Fenster und wisperte: „Es hat keine Gitter. Schnell! Beeil dich!“
Sieglinde wartete, bis Melinda die Läden aufgestoßen und sich über die Steinbank geschwungen hatte, dann verließ auch sie auf dieselbe Weise den Raum. Sicher landete sie mit ihren nackten Füßen im Sand. Sie warf den Schlüssel fort und schloß sich der Spanierin an. Sie rafften den Saum ihrer Gewänder und liefen, so schnell sie konnten.
Ihr Ziel war die Landzunge, die die Bucht, an der Abu Al-Hassans Palast stand, zum Meer hin abschloß – eine lange sandige Nehrung. Fast am Ende lag eine winzige Fischersiedlung. Sieglindes und Melindas Plan war es, sich heimlich eins der Boote zu nehmen und damit auf die See hinauszurudern. Was immer sie dort draußen, in den Weiten der Wasserwüste, auch erwarten mochte – sie nahmen Sturm, Hunger und Durst lieber in Kauf als das, was sie im Harem des Abu Al-Hassan zu ertragen hatten.
Sie wußten, daß sie es schaffen konnten, doch sie gaben sich beide keinen Illusionen hin. Noch waren sie nicht außer Gefahr. Noch konnten Abus Häscher sie greifen.
Im Palast hämmerte Mechmed, der Berber, mit beiden Fäusten gegen die verschlossene Tür zum Innenhof und brüllte: „Öffnen! Eunuchen, hört ihr nicht? Ihr sollt öffnen! Was wird hier gespielt? Was geht hier vor, beim Scheitan?“
Einer seiner Begleiter stieß ihn mit dem Ellbogen an, und Mechmed fuhr sofort herum.
Abu Al-Hassan stand hinter ihnen auf der Mitte des Flures, groß, kräftig, mit einem sorgfältig gestutzten grauen Vollbart in seinem markant geschnittenen Gesicht. Wie immer trug er einen weißen Burnus und einen weißen Turban.
„Allah sei euch Hunden gnädig!“ schrie er. „Wenn ihr den Schlüssel nicht findet, dann brecht die Tür auf!“
In dieser Nacht, der Nacht vom 22. zum 23. September 1591, segelte die „Isabella VIII.“, über Backbordbug liegend, durch die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, hielt sich auf der afrikanischen Seite, also nahe der Punta Marroqui und der Punta Almina, weil er um keinen Preis Ärger mit den Spaniern kriegen wollte. Er und seine Männer konnten bei dieser klaren Sicht aber sehr wohl die Leuchtfeuer erkennen, die im Norden brannten, dort, wo Gibraltar liegen mußte.
Hasard stand auf dem Achterdeck bei Ben Brighton und Big Old Shane und sagte: „Die Spanier sind nicht mehr ganz so stark wie früher, aber sie können uns immer noch erheblichen Ärger bereiten, wenn sie uns entdecken. Passen wir auf, daß wir keinem ihrer Patrouillenschiffe in die Quere geraten.“
Ben Brighton lächelte. „Sir, was uns betrifft – wir passen auf wie die Luchse. Es hat in der letzten Zeit genug Unannehmlichkeiten gegeben.“
„Du sprichst von Ferro und von Santo Antao“, sagte Shane. „Aber vergiß nicht, daß es unsere lieben englischen Landsleute und eine Handvoll dreister Iren waren, mit denen wir es zu tun hatten.“
„Deswegen sind uns die Spanier und Portugiesen noch lange nicht freundlicher gesonnen als früher“, meinte Hasards Erster Offizier und Bootsmann.
„Ja“, sagte der graubärtige Riese. „Und deshalb haben wir für diese Schleichfahrt ja auch unsere Hecklaterne gelöscht. Das dürfte genügen. Wir sind schon ein gutes Stück voran und haben noch keinen einzigen verdammten Don gesehen.“
„Ich schätze aber, daß sie auch im Mittelmeer herumspuken“, gab der Seewolf zu bedenken. „Nach allem, was man zuletzt über Philipp II. gehört hat, ist er darauf bedacht, die innere Sicherheit seines Landes zu wahren. Das heißt mit anderen Worten, die Grenzen von Spanien-Portugal werden jetzt besonders scharf kontrolliert.“
„Weil Seine Allerkatholischste Majestät mit einem neuen Überfall durch England rechnet?“ Shane lachte grollend. „Hölle, wenn ich es mir recht überlege, hat er allen Grund dazu. Cadiz und die Armada könnten sich wiederholen.“
„Da hast du mal ein weises Wort gesprochen“, sagte Ben. „Aber wir dürfen den Gegner eben nicht unterschätzen. Ich nehme an, daß wir auf unserer Reise ins östliche Mittelmeer noch einige Scherereien kriegen. Oder glaubt ihr, daß wir problemlos bis dorthin gelangen?“
„Ganz problemlos nicht“, meinte der Seewolf. „Aber wir werden es schon verstehen, größeren Gefechten auszuweichen.“
Shane nickte. „Außerdem soll man das Unheil nicht heraufbeschwören. Oder heißt du neuerdings vielleicht Old Donegal Daniel O’Flynn, Mister Brighton?“
„Gott bewahre“, entgegnete Ben. „Das fehlte noch.“
Sie schwiegen und beobachteten weiterhin ihre Umgebung, so gut das Mondlicht es ihnen gestattete. Auf der Kuhl und auf der Back versahen sechs Männer der Crew die sogenannte Hundewache, die von Mitternacht bis vier Uhr dauerte, im Großmars hockte als Ausguck Bill, der Moses, und sie alle hingen den Erinnerungen nach, die sich mit der Meerenge von Gibraltar verbanden, mit dem „Canal estrecho“, wie die Spanier sie nannten.
Vor elf Jahren waren sie schon einmal hier gewesen, und dem Seewolf hatte eine bedeutsame Begegnung bevorgestanden. Nach langer Suche hatte er seinen Vater, den deutschen Malteserritter Godefroy von Manteuffel, gefunden und aus der Gewalt des gefährlichen Piraten Uluch Ali befreit. Godefroy von Manteuffel war bei diesem Gefecht jedoch gefallen.
Und die andere Reise vom Atlantik durch den „Estrecho“ ins Mittelmeer, die mehr eine Irrfahrt gewesen war? Hatte sie nicht auch gleichsam unter einem bösen Omen gestanden? Auch sie lag inzwischen schon wieder mehr als vier Jahre zurück. Gewiß, Hasard hatte damals endlich in Tanger seine beiden Söhne Philip und Hasard wiederentdeckt – die Zwillinge. Doch im Sturm wäre einer der beiden um ein Haar ertrunken, und etwas später hatte