Seewölfe - Piraten der Weltmeere 384. Roy Palmer
in die Karibik und peitschte die See mit ungezügelter Macht. Die Handels-Galeonen „San Sebastian“ und „Almeria“ wurden von dem Toben der Urgewalten voll erfaßt, es gab kein Entweichen, obwohl sie bereits in der Windward Passage standen.
Ihr Zielhafen war Santiago de Cuba. Vor zwei Monaten waren sie in Cadiz in See gegangen, und es war alles andere als eine leichte, problemlose Überfahrt gewesen. Die Stürme hatten Menschenopfer gefordert, auch das Fieber hatte in drei Fällen zugeschlagen. Zwei Kinder und eine Frau hatten ihr Leben lassen müssen. Alle waren mit seemännischen Ehren bestattet worden, mehr hatte man nicht für sie tun können.
Ein Kerl an Bord der „Almeria“ hatte vor einer Woche versucht, heimlich die Proviantkammer zu plündern. Er war dafür mit sechs Peitschenhieben bestraft worden. Jeder andere Kapitän hätte ihn für den versuchten Mundraub garantiert zu der doppelten Menge verurteilt. Aber das ging keinem der Galgenstricke und Schlagetots auf, die Rascón und Alentejo gezwungen gewesen waren, aus Cadiz mitzunehmen.
Dabei waren beide Kapitäne handfeste Seeleute, gestandene Männer also, und zwar von der ehrlichen Sorte. Sie hatten es eigentlich nicht verdient, daß ihnen das üble Gelichter überantwortet worden war. Aber sie waren machtlos gegen die Entscheidungen der Casa, sie mußten sich der Order beugen.
Rascón und Alentejo waren miteinander befreundet. Alentejo war grundsätzlich mit jedem Befehl einverstanden, den Rascón, der ältere Mann, für beide Schiffe gab. Er wußte, daß er keine Entscheidung besser hätte treffen können.
Mehrmals schon hatten sie gemeinsam die Karibik bereist, waren in diesen Gewässern also nicht unerfahren. Aber es waren auch nicht die Wetterbedingungen, Wind, Strömung, Korallenbänke oder Klippen, die ihnen Kopfzerbrechen bereiteten. Ihre einzige Sorge war die „Ladung“, die sie an Bord ihrer Schiffe hatten.
Die Männer, Frauen und Kinder in den Frachträumen waren von der Casa de Contratación zur Besiedlung Kubas ausgesucht worden. Sie sollten auf der Insel ansässig werden und Ackerbau und Viehzucht betreiben, auch den Anbau von Zuckerrohr. Ferner waren Handwerker und Bergbauleute unter ihnen, die für die Kupferminen bei Santiago de Cuba vorgesehen waren.
Aber auch Abenteurer, verkrachte Hidalgos, Diebe, Räuber, Mörder und leichte Mädchen befanden sich an Bord beider Schiffe. Bedauerlicherweise hatte das Büro der Casa in Cadiz Rascón und Alentejo diese Kerle und Weiber aufgezwungen, die man in Cadiz loswerden wollte. Um die Mannschaft „aufzufüllen“ – so hieß es offiziell in einer Verlautbarung.
In Wirklichkeit war dies eine der Methoden, die man anwandte, um die Gefängnisse in Spanien zu entlasten. Dabei rechneten die Vollzugsbehörden ohnehin damit, daß die Galgenstricke die Überfahrt nicht überlebten. Die Seefahrt war hart und forderte viele Opfer.
Doch die Rechnung ging nicht auf. Huren und Raufbolde, Beutelschneider und Wegelagerer mochten dazu bestimmt sein, früher oder später das Zeitliche zu segnen. Doch wenn der Zufall es wollte, erwiesen sie sich als zäher und widerstandsfähiger als alle anderen. So auch hier: Die Ängstlichen und Schwachen, die Kränkelnden und Unerfahrenen landeten in Gottes tiefem Keller, nicht aber die Hartgesottenen und Skrupellosen.
Somit war es eine sonderbare Art von „Strafvollzug“, die man den beiden geplagten Kapitänen überließ – und sie mußten für solchen Mannschaftszuwachs auch noch „Danke schön“ sagen. Zwar litten Handels-Galeonen wie die „San Sebastian“ und die „Almeria“ an chronischer Unterbesetzung, aber lieber wären Rascón und Alentejo unterbemannt in die Karibik gesegelt als mit derartigen Galgenvögeln.
Weigerte sich ein Schiffskapitän jedoch, solche aus den Gefängnissen rekrutierten Kerle an Bord zu nehmen, dann konnte es passieren, daß die Casa sehr schnell Mittel und Wege fand, ihm das Patent zu entziehen und ihm sogar das eigene Schiff wegzunehmen oder es zu beschlagnahmen. Mit anderen Worten: Er wurde auf sanfte, aber nachdrückliche Art dazu erpreßt, sich der „Schützlinge“ anzunehmen, die für sein Schiff den Untergang bedeuten konnten.
„Señores“, sagte Gomez Rascón. „Wir stehen wieder einmal einer heiklen Situation gegenüber. Wie lautet unsere genaue Position?“
Solares, der Erste, nannte sie ihm und fügte hinzu: „Wir befinden uns also bereits fast auf der Höhe von Santiago de Cuba.“
„Aber der Wind ist zu stark“, erklärte der Steuermann Elcevira. „Ein höllischer Sturm, Señor Capitán. Wir dürfen nicht wagen, nach Norden auf den Hafen zuzusteuern.“
„Dem stimme ich zu“, sagte Solares. „Wir riskieren dabei Kopf und Kragen.“
„Sehr richtig“, pflichtete Rascón ihnen ebenfalls bei. „Wir haben nur noch die eine Wahl. Wir müssen vor dem Sturm lenzen, also westwärts segeln. Nur so können wir uns retten. Señores, geben Sie Juan Alentejo ein entsprechendes Lichtsignal. Dann setzen Sie ein Hecklicht, denn er wird in unserem Kielwasser segeln und uns folgen. Geben Sie der Mannschaft alle erforderlichen Anweisungen, und sorgen Sie dafür, daß die Verschalkungen der Schotten und Luken sowie die Festigkeit der Manntaue regelmäßig überprüft werden.“
„Jawohl, Señor“, sagten die beiden gleichzeitig.
Dann war es Solares, der sich noch einmal zu Wort meldete. „Aber was sollen wir den Leuten in den Stauräumen sagen?“
„Vorläufig gar nichts“, erwiderte der Kapitän mit ernster Miene. „Lassen wir sie im Ungewissen. Sie müssen glauben, daß wir Santiago bald erreichen. Wenn sie erfahren, daß es eine Verzögerung gibt, werden sie noch unruhiger. Das müssen wir verhindern.“
„Was ist mit den Hundesöhnen, die mit zur Mannschaft gehören?“ fragte Elcevira. „Denen können wir es nicht verheimlichen.“
„Der Bootsmann soll ein waches Auge auf sie haben.“ Rascón erhob sich. „Gott segne unser Schiff und die ‚Almeria‘. Hoffen wir, daß wir unser Ziel unbeschadet erreichen.“
Solares und Elcevira bekreuzigten sich mit ihm zusammen, dann zeigten sie klar und verließen die Kapitänskammer im Achterkastell. Sie eilten nach vorn, enterten das Hauptdeck und teilten die Kommandos aus.
Wenig später lenzte die „San Sebastian“ vor dem Sturm und rauschte westwärts. Die „Almeria“ war in ihrem Kielwasser. Alentejo orientierte sich an dem auf und ab tanzenden Hecklicht, das Rascón hatte setzen lassen.
Die Schiffe ritten donnernde Brecher auf ihren gischtenden Kämmen ab, sie taumelten über den schmalen Grat in gähnende Wasserschluchten und drohten darin unterzugehen. Sie stampften, schlingerten und rollten und waren den Mächten der Natur ausgeliefert. Nur wenig konnten Rascón und Alentejo noch tun. Sie ließen Trossen durch das Hennegat ausbringen, die im Kielwasser ihrer Dreimaster schlingenförmig mitliefen und den Schiffen weniger Fahrt und mehr Kursstabilität verleihen sollten.
So trieben sie durch die Nacht, ihrem Schicksal ausgeliefert. Nie war es so fraglich gewesen wie jetzt, ob sie Santiago jemals erreichten, selbst auf dem Atlantik nicht. Was brachte die nahe Zukunft?
Weiter westlich, ebenfalls an der südlichen Küste von Kuba, kämpften zwei andere Schiffe mit dem Sturm – eine Dreimastgaleone und ein düsterer, unheimlich wirkender Zweidecker. Geheimnisvoll und mit komplizierten Zusammenhängen verbunden waren die Zukunft, der Auftrag und das Ziel dieser Schiffe, deren Anblick jeden Beobachter in Staunen versetzt hätte.
Die Galeone mit den drei Masten war spanischer Herkunft. Einst hatte sie „Santa Clara“ geheißen und Perlen befördert. Dann aber war sie aufgebracht und entführt worden, und ein findiger Schiffsbaumeister hatte sie gründlich umkonstruiert, so daß sogar der frühere spanische Kapitän sie nicht wiedererkannt hätte.
Hesekiel Ramsgate hieß dieser ausgefuchste Schiffsbaumeister. Er hatte die „Santa Clara“ in eine deutsche Galeone aus Kolberg in Pommern verwandelt. Im Großtopp flatterte die Flagge mit dem roten Greif auf silbernem Feld, das Wappen Pommerns, an der Besanrute die Flagge von Kolberg mit der Bischofsmütze, den drei Stadttürmen und den beiden Schwänen. Die Galionsfigur war ein Greif, rot angestrichen, das Wappentier von Pommern. Das Schiff war überdies schwarz angestrichen worden, und auf jeder Seite hatte Ramsgate an den Schanzkleidern Halterungen