Seewölfe - Piraten der Weltmeere 251. Roy Palmer
Nach dem Gefecht mit dem fanatischen Nilräuber Halad Abu Thadi segelte sie nun schon seit zwei Tagen ungehindert stromaufwärts.
Das Navigieren auf dem Nil wurde zwar immer schwieriger, weil ständig tückische Sandbänke auftauchten oder der Wind einschlief, doch bislang hatte es keinen unerwarteten Zwischenfall mehr gegeben, der ihnen zu einem ungewollten Aufenthalt verhalf.
Es war wärmer geworden, der Wind wehte auch jetzt, nach dem Dunkelwerden, fast so heiß wie am Tag.
Big Old Shane stieg zu Hasard, Ben Brighton und Old O’Flynn auf das Achterdeck und sagte: „Wenn die Wärme weiterhin zunimmt, werden morgen die Planken so heiß, daß sie einem die Füße versengen. Sind wir etwa bald schon am Äquator?“
„Langsam, langsam“, sagte der Seewolf lachend. „Übertreib nicht so schamlos, Shane. So schlimm wird es mit der Hitze schon nicht werden. Und, zu deiner Orientierung: Wir befinden uns ungefähr auf dem achtundzwanzigsten Grad nördlicher Breite, also auf der Höhe der Kanarischen Inseln.“
„Erst?“ stieß der graubärtige Riese erstaunt hervor. „Hol’s der Henker, auf den Kanaren ist es um diese Jahreszeit aber nicht so warm, wenn mich nicht alles täuscht.“
„Auf den Kanaren gibt es auch keine Sahara“, sagte der alte O’Flynn trocken. „Wir segeln hier durch die grünen Niederungen des Nils, Shane, aber rundum ist sonst nur Sand, vergiß das nicht.“
„Ich vergesse es nicht. Ich spüre den verdammten Sand schon wieder auf der Zunge.“
Ben Brighton trat einen Schritt näher auf ihn zu. „Nimm’s nicht so schwer. Bald laufen wir wieder eine Siedlung an, und dort gibt es sicher genug zu trinken, so daß du dem Kutscher nicht das Wasserfaß auszusaufen brauchst.“
Shane setzte eine gallebittere Miene auf. „Genug zu trinken, ja. Tamarindensaft, was? Verdammtes Ägypten. Ich versteh nicht, warum diese traurigen Fellachen und auch die Türken, die sich hier breitgemacht haben, nicht was Vernünftiges gegen ihren Brand haben.“
„Sie haben Wein“, sagte der Seewolf.
Shane sah ihn verständnislos an. „Und warum, zum Teufel, trinken sie den nicht?“
„Darüber haben wir doch nun schon oft gesprochen. So schreibt es ihnen ihre Religion vor, so steht es im Koran.“
„Trotzdem will’s mir nicht in den Kopf“, sagte der ehemalige Schmied von Arwenack. „Allah schaut doch nicht überall hin. Sie könnten sich ab und zu mal einen genehmigen.“
„Mit dem Koran nehmen die Muselmanen es sehr genau“, widersprach Hasard. „Das ist nun mal so. Außerdem halten sie den Wein zum Verkauf bereit, das soll uns nur recht sein.“
„Wirklich?“
„Mal sehen, was sich dort tun läßt, wo ich ankern will. Der Karte nach ist der Ort nicht mehr weit entfernt. Er heißt Beni Hasan el-Bersche, und er ist nicht weit von Achet-Aton entfernt, das auch Tell el Amarna genannt wird. Dort steht der Totentempel des Echnaton, den ich finden will. In Beni Hasan el-Bersche beschaffen wir uns wieder Proviant, damit wir in der nächsten Zeit genug an Bord haben und in dieser Beziehung unabhängig sind“, erklärte der Seewolf.
„Wein“, sagte Big Old Shane. „Das wäre was. Endlich mal eine Abwechslung. Ich kann’s kaum erwarten, dort an Land zu gehen.“
„Mir geht es genauso“, gestand der alte O’Flynn. „Ehrlich gesagt, mir klebt die Zunge bereits am Gaumen fest.“
Al Conroy, der vorn auf der Galionsplattform lag, stieß plötzlich einen warnenden Laut aus.
„Nur noch drei Faden Wassertiefe!“ sang er aus, nachdem er das Senkblei zum wiederholten Mal an der Lotleine in die Tiefe gelassen hatte.
„Nur noch drei Faden!“ rief nun auch Bill, der sich als Ausguck im Großmars befand.
Hasard wandte sich zu Pete Ballie um, seinem Rudergänger, der in diesem Augenblick den Kopf aus dem Ruderhaus reckte.
„Zwei Strich Steuerbord, Pete“, sagte Hasard, und Ballie drehte das Ruderrad mit seinen schwieligen Händen.
Ben Brighton war an die Querbalustrade des Achterdecks getreten und gab den Männern auf der Kuhl ein Zeichen. Sie begannen, die Segel etwas weiter anzubrassen und somit nachzutrimmen. Die „Isabella“ krängte etwas weiter über Steuerbordbug, hielt im spitzen Winkel auf das Westufer zu und drückte ihre Backbordseite schräg gegen die Strömung.
Wieder fierte Al das Lot ab.
„Dreieinhalb Faden!“ gab er erleichtert bekannt.
Kurze Zeit darauf betrug die Wassertiefe mehr als vier Faden, und der Seewolf ließ auf den alten Kurs zurückfallen. Wieder hatten sie eine Untiefe umgangen.
Es war ein mühseliges Werk, auf diese Weise den Nil hinaufzumanövrieren. Immer wieder mußten die Männer an die Brassen und Schoten, mußte der Kurs korrigiert werden. Pausenlos mußte der Lotgast der jeweiligen Deckswache auf der Galion sein und das Senkblei nach unten schicken. Anders aber konnte man dem Strom nicht trotzen und seine Tücken bewältigen. Diese Erfahrung hatten Hasard und seine Männer nun schon oft genug gemacht. Sie durften keinen Augenblick unaufmerksam sein, denn der Fluß war so trügerisch, wie es die See trotz aller Stürme nie sein würde.
2.
Santiago Espronceda überließ seinem Ersten Offizier die Führung durch das Dorf, dessen Namen de Salomon zwar ein paarmal genannt hatte, den sich aber kein Mann des Aktionstrupps richtig merken konnte.
De Salomon aber hatte nicht nur diesen Namen und viele andere Einzelheiten im Kopf, er fand sich in den Gassen und Gängen zwischen den Häusern so gut zurecht, als sei er schon einmal hier gewesen.
Natürlich war dem nicht so, Espronceda wußte es ganz genau. Der Erste war vielmehr ein Mann, der bei der Befragung von Gefangenen mit außerordentlicher Sorgfalt vorging und kein Detail vergaß.
So hatte er sich von den beiden Ägyptern aus Manfalut haarklein beschreiben lassen, wie man zu dem Haus des Sabr Chamal gelangte. Selbstverständlich hatten sie ihm die Wahrheit anvertrauen müssen, die volle Wahrheit, denn er hatte sie auf die schlimmste Weise gefoltert. Er hatte noch keine einzige Information gekauft. Alles, was den Spaniern zu den Schätzen verholfen hatte, die sich im Frachtraum ihrer Galeone stapelten, hatte er nur auf diese Art erfahren.
De Salomon blieb am Ende einer Gasse stehen, hinter ihm verharrten die dreizehn anderen Männer, ganz vorn ihr Kapitän. Espronceda blickte seinem Ersten über die Schulter und musterte die Front eines weißen Hauses, die sich ihnen gegenüber auf der anderen Seite eines kleinen quadratischen Platzes erhob.
„Ist es das?“ fragte er leise.
„Ja“, raunte de Salomon. „Das Haus des Sabr Chamal.“
„Und es gibt nicht nur ein paar Perlschnürenvorhänge vor den Türen, nicht wahr?“
„So ist es, Capitán“, flüsterte der Erste. „Wegen der Besitztümer, die er dort hortet, hat Chamal natürlich solide Türen einbauen lassen.“
„Unser Problem ist es also, uns Einlaß zu verschaffen.“
„Wir sollten zur Hintertür schleichen“, zischte de Salomon. „Sie hat das Schloß, das am leichtesten zu öffnen ist.“
„Auch das haben die Männer von Manfalut gewußt?“
„Auch das.“
„Sie wollten Chamal selbst einen Besuch abstatten?“
„Ja“, murmelte der Erste. „Aber dann überlegten sie es sich doch anders. Es war ihnen zu riskant. Chamal wohnt nur mit seiner einzigen Frau und einem Sklaven in dem Haus. Er hat keinen Harem, keine Eunuchen und auch sonst keine Wächter. Doch ein einziger Ruf genügt, und die ganze Umgebung wird mobil. Im Nu könnte ein Kesseltreiben beginnen, aus dem es kein Entweichen mehr