Seewölfe - Piraten der Weltmeere 453. Fred McMason
wir jetzt auf Ostkurs“, sagte er zu Pete Ballie, der die Pinne übernommen hatte.
„Auf Ostkurs“, wiederholte Pete. „Kurs Ost liegt an, Sir“, sagte er, als das Manöver vollzogen war.
„Recht so.“
Sie hatten jetzt von der Lee- zur Luvposition gewechselt. Das war ein weiterer Vorteil, denn auf der Luvposition konnten sie jederzeit die Überlegenheit des Zweimasters auf Kreuzkursen ausspielen. Der Zweimaster lief hoch am Wind etwas schneller als die chinesischen Kampfdschunken.
„Wenn es jetzt erforderlich wird“, sagte Hasard, „dann können wir ausreißen, und die Dschunken haben das Nachsehen. Auf ein Gefecht mit ihnen können wir uns nicht einlassen, denn wir haben gegen fünf stark armierte und mit Brandsätzen bestückte Dschunken nicht die geringste Chance. Sie würden uns so zusammenschießen, wie sie es mit der ‚Estrella‘ getan haben.“
Meile um Meile legten sie bei absoluter Finsternis zurück. Obwohl sie nichts mehr sahen, waren die Ausgucks weiterhin besetzt, die jetzt vor allem den Backbordsektor scharf kontrollierten. Es konnte ja sein, daß auf einer der Dschunken ein Licht entzündet wurde.
Es blieb jedoch weiterhin dunkel. Scheinbar waren die Dschunken verschwunden.
Im Verlauf der Nacht, so schätzte der Seewolf, mußten sie auf dem Ostkurs bereits hinter den Dschunken sein. Noch später suchte er selbst die See ab, aber er sah nichts, auch Dan O’Flynn konnte nichts bemerken, trotz seiner scharfen Augen.
„Wir müssen uns jetzt auf einer Position etwa Steuerbord achteraus der Dschunken befinden, wenn sie ihren bisherigen Kurs beibehalten haben. Beide Kurse laufen jetzt auseinander. Ich nehme an, daß wir ihnen entwischt sind.“
„Vielleicht bewegen den Schnapphahn ähnliche Gedanken“, meinte Ben. „Wir kneifen heimlich aus, und er setzt sich auf einen Kurs, von dem er annimmt, daß er uns erwischen wird. Das ist so eine Art Katz-und-Maus-Spiel bei totaler Finsternis.“
„So ähnlich“, sagte Hasard. „Wir sind die Maus, die trickreich zu entwischen versucht, und drüben lauert die Katze, die sich überlegt, was die Maus unternehmen wird, und wie man sie erwischen kann.“
Immer wieder versuchte Hasard, sich in die Rolle der chinesischen Piraten hineinzudenken. Ob ihm das allerdings gelang, konnte er nicht genau beurteilen, denn da spielten Voraussetzungen mit, die nicht immer kalkulierbar waren.
Aber auch wenn er voraussetzte – um das Denkspiel zu vervollständigen –, daß die Chinesen keinerlei Interesse an ihnen hatten, dann hatten sie trotzdem nicht falsch gehandelt.
Der Zweimaster jagte weiter durch die Nacht. Er segelte mit Halb- bis Backstagswind über Backbordbug ostwärts, und entfernte sich dabei zwangsläufig immer weiter von den Kampfdschunken, die ihn noch vor sich glaubten.
Hasard wüßte nur noch nicht genau, ob dieser Ostkurs auch richtig war. Es gab noch Unwägbarkeiten in dem nächtlichen Verfolgungsspiel. Er mußte nochmals alles das durchdenken, was mit „wenn“ oder „aber“ zusammenhing, und das war eine ganze Menge.
Auf der vordersten Kampfdschunke stellte der schlitzäugige Kapitän ebenfalls Überlegungen an. Sie hatten absichtlich kein Interesse an dem weit voraus segelnden Zweimaster gezeigt, um die weißen Teufel in Sicherheit zu wiegen. Um so überraschter würden sie sein.
Der Dschunkenkapitän war klein und gedrungen, ein mongolischer Typ mit stark vortretenden Wangenknochen, die von lederartiger Haut umspannt wurden. Seine Augen waren wie die einer Ratte, die alles blitzschnell und mißtrauisch musterten.
Er trug als Zeichen seiner Würde einen langen Zopf, der ihm bis weit über den Rücken hing. Eine schwarze Kappe verbarg den Rest seiner spärlichen Haare. Die anderen trugen nur halb so lange Zöpfe.
Es war jetzt kurz vor Mitternacht und stockdunkel. Der voraus in Sichtweite segelnde Zweimaster war verschwunden. Die Finsternis hatte ihn geschluckt. Aber er war da, auch wenn er jetzt unsichtbar blieb.
Li-Loyang, so hieß der Dschunkenkapitän, verzog sein Gesicht zu einem höhnischen Grinsen. Die weißen Teufel würden sich wundern, wenn er überraschend auftauchte und über sie herfiel.
In Gedanken beschäftigte er sich mit den Kursen, die gesegelt werden mußten, um den Zweimaster einzukreisen. Dabei stellte er ähnliche Überlegungen an wie Hasard, nur in entgegengesetzter Richtung. Er mußte trickreich versuchen, das Wild zu erwischen und in die Enge zu treiben.
Er beriet sich mit Ni Kua, seinem engsten Vertrauten, gleichzeitig Sterndeuter, Berater, Feuerwerker und Stellvertreter.
Ni Kua war ein kleiner, vertrocknet wirkender Kerl mit völlig unbewegtem Gesicht. Er hatte eine stark ausgeprägte Mongolenfalte, eine Falte am Auge, die den freien Lidrand überdeckte und sich über den inneren Augenwinkel zog, der dadurch verdeckt wurde. Dabei entstand eine halbmondförmige Rundfalte, und dadurch sah Ni Kua immer wie ein grinsender Zwerg aus, dessen Augen ewig geschlossen schienen.
Ni Kua genoß jedoch die Hochachtung des Kapitäns und den Respekt, den man ihm allgemein entgegenbrachte, denn er war einer jener Abkömmlinge, die den Großen Kanal zwischen Hongchou im Süden und Changan im Norden gebaut hatten. Das lag zwar schon etwa siebenhundert Jahre zurück, aber das tat nichts zur Sache.
Li-Loyang griff in jeder Situation auf die umfangreichen Kenntnisse des Ni Kua zurück. Er verließ sich fast blindlings auf ihn, denn Ni Kua besaß das weise Buch mit dem Titel I Ching, das Buch der Wandlungen, das eine Mischung aus alter Bauernweisheit und den Orakelsprüchen der Wahrsager war. Dieses Buch enthielt eine Aufstellung aller Dinge, die dem „yin“ oder „yang“ zugeordnet waren. Weiter enthielt es acht Trigramme, die aus verschiedenen Kombinationen mit nur zwei Symbolen zusammengesetzt waren, eben dem „yin“ oder „yang“.
Der gallig grinsende Zwerg mit den ausgeprägten Schlitzaugen zitierte ständig Auszüge aus diesem Buch. Es diente ihm zur Interpretation aller denkbaren, möglichen und unmöglichen Situationen.
So konnte er damit ein Seebeben erklären, einen mißlungenen Überfall oder eine Krankheit. Er konnte aber – nach Meinung des Kapitäns – voraussagen, wie eine Sache verlaufen würde. Die Mißerfolge übersah man dabei großzügig, dafür wurde dann eine Erklärung gefunden, aber die Erfolge blieben im Gedächtnis haften.
So war Ni Kua zu Ansehen, Ruhm und Ehren gelangt. Jetzt fehlte nur noch der Reichtum, und den gedachte man sich an den Küsten der Neuen Welt zu holen, wo es unglaubliche Schätze geben sollte. Auf dem Weg dahin waren sie jetzt, nur störte sie der Zweimaster.
„Ich stelle Überlegungen an“, sagte der Kapitän. „Die vier anderen Dschunken sollen auf Nordnordostkurs gehen, um näher an die weißen Teufel heranzustaffeln. Sie stören mich, sie sind lästig, denn sie könnten den Anmarsch unserer Dschunken im Land der weißen Teufel bekannt geben, so daß man vorbereitet ist. Wir selbst gehen auf Nordkurs, und nehmen uns den Zweimaster vor. Wir werden ihm von achtern aufsegeln und mit dem Buggeschütz die Ruderanlage zertrümmern. Dann haben wir ihn, und er kann den Küstenort nicht mehr warnen.“
Unter ihnen, auf dem Achterdeck der Dschunke, glomm in einem kesselähnlichen Behälter ein grünes kaltes Licht wie das feurige Auge eines Dämons. Dieses Licht war von außen nicht zu sehen, aber es beleuchtete einen großen Kompaß mit Drachensymbolen, ein exakt arbeitendes nautisches Gerät, um das sie jeder beneidet hätte.
Gespeist wurde das Dämonenauge tagsüber vom Sonnenlicht, so hatte Ni Kua es erklärt. Es sog sich damit voll und gab das Licht während der Nacht wieder ab. Tagsüber verlor das Dämonenauge seine magische Strahlung, es glühte nur bei Dunkelheit.
Der Zwerg mit den Schlitzaugen starrte wortlos eine ganze Weile auf den Kompaß. Dabei beugte er sich tief hinunter. Sein Gesicht glich einer Teufelsfratze, als es grünlich angestrahlt wurde.
„Was sagen deine Berechnungen, Ni Kua?“
„Ich werde die neun Häuser und I Ching befragen. Der Dualismus des yin yang wird die Antwort wissen. Durch die magischen Quadrate werden wir ebenfalls erfahren, was die langnasigen Dämonen vorhaben.“
Zunächst