Seewölfe - Piraten der Weltmeere 610. Burt Frederick
Impressum
© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-96688-024-4
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Burt Frederick
Cholera an Bord
Nach zwei Wochen auf dem Atlantik werden die Barmherzigen zu Bestien
„Gelobet sei der Herr in seiner unermeßlichen Güte!“
Kapitän Amos Toolan gab seiner Stimme einen markigen Klang und breitete die Arme aus. Dadurch sah er aus wie ein rundlicher, pausbackiger Engel, allerdings reichlich groß geraten. Wie er da hinter der Querbalustrade des Achterdecks auf den Zehenspitzen wippte, konnte man ihn sich leicht als Posaunenengel vorstellen.
Man brauchte nicht viel Einbildungskraft dazu, um ihn als schwergewichtigen Engel himmlischen Gestaden entgegenschweben zu sehen.
„Lasset uns diesen Tag mit Lobpreisen beginnen!“ Toolan reckte die wurstförmigen Arme noch ein Stück höher. Die Offiziere und die selbsternannten Hirten hatten hinter ihm einen Halbkreis gebildet. Sie nickten und murmelten beifällig.
Kate Flanagan sah und hörte nichts davon. Sie beachtete auch ihren Mann nicht, neben dem sie auf der Kuhl der „Explorer“ hockte – inmitten all der Leute, die froh waren, endlich wieder die Sonne zu sehen.
Kate hatte nur Augen für dieses Bild von einem Mann …
Die Hauptpersonen des Romans:
Kate Flanagan – als ihr Mann an der Cholera stirbt, ist sie keineswegs voller Trauer.
Laura Stacey – die junge, hübsche Londonerin widmet sich hingebungsvoll der Krankenpflege.
Hannibal Gould – der frömmelnde Puritaner entwickelt einen teuflischen Plan, sich der Kranken zu entledigen.
Amos Toolan – der Kapitän der „Explorer“ preist zwar bei jeder Gelegenheit die unendliche Güte des Herrn, aber ein reines Gemüt hat er keineswegs.
Batuti – der Riese aus Gambia fährt für eine Weile mit dem Kutscher und Bob Grey auf der „Explorer“, aber das ist für keinen von ihnen ein Vergnügen.
Philip Hasard Killigrew – der Seewolf kann in letzter Minute verhindern, daß bei den Auswanderern eine Panik ausbricht.
Inhalt
1.
Sie wollte ihn haben. Sie mußte ihn haben. Das Dumme war nur, daß er einer anderen gehörte. Die beiden waren das vollkommenste Paar, das sie je gesehen hatte. Sie wirkten wie füreinander geschaffen. Der Neid mußte es ihnen lassen.
Er war kaum mehr als zwanzig Jahre alt, hochgewachsen und kraftvoll gebaut. Sein blondes Haar leuchtete im Licht der Sonne und bildete einen aufregenden Kontrast zu der Bräune seines kühnen, scharfgeschnittenen Gesichts.
Das Mädchen war gleichfalls blond. Seidig schimmernd fiel ihr Haar bis über die Schultern und gab ihrem schlanken Körper eine Art von Betonung, die jeden Mann in Faszination versetzen mußte.
Nein, wohl nicht jeden.
„Lobet den Herrn!“ brüllte Toolan so unvermittelt und lautstark, daß die meisten an Bord zusammenzuckten. „Ja, ich sage euch, lobet den Herrn! In seinem unergründlichen Ratschluß hat er uns eine schwere Prüfung auferlegt. Aber wir haben diese Prüfung bestanden, meine Freunde! Die Stürme liegen hinter uns! Vor uns liegt das Licht! Ihr seht es! Der Herr ist mit uns!“
Ein vielstimmig gemurmeltes „Amen“ war die Reaktion.
Mit einem unwilligen Seitenblick streifte Kate Flanagan unterdessen ihren Angetrauten, der rechts neben ihr saß. Sie hatten das Glück gehabt, eine Taurolle zu erwischen, nicht weit vom Großmast entfernt.
Hugh Flanagan war nur mittelgroß und untersetzt. Wenn er saß, fiel seine unmögliche Figur am meisten auf. Die Hüften waren breiter als die Schultern. Es war, als throne ein viel zu kleiner Oberkörper auf einem wulstigen Ring aus Knochen und Fleisch.
Sein Gesicht, immer noch mit dem Ausdruck eines ahnungslosen dummen Jungen, der begriff stutzig in die Welt blickt, hatte jene rosige Farbe, die so typisch war für einen Bauern, der die meiste Zeit seines Lebens im Freien verbrachte – auf irgendeinem verdammten, nach Jauche stinkenden Acker. Seine Augen waren klein und graublau wie die eines borstigen alten Ebers.
„Höret nun die Epistel, aus der wir die Leitgedanken für diesen wunderschönen Junitag im Jahre des Herrn 1598 entnehmen!“ Toolan trompetete wie ein Fanfarenengel.
Kate grinste mitleidig hinter vorgehaltener Hand. Dieser komische Typ von einem Kapitän war bestimmt auch nicht gerade ein Frauenheld. Ihren Mann nannte sie jedenfalls in Gedanken nur ihren Trottel.
Er hatte keinen Blick für die schönen Dinge des Lebens. Seine Vorzüge, wenn man sie überhaupt so nennen wollte, lagen woanders. Er wußte, wann der richtige Zeitpunkt war, ein Feld zu bestellen. Er konnte mit den Ackergäulen so gut umgehen, daß man fast glaubte, sie verstünden, was er sagte. Und er konnte selbst arbeiten wie ein Pferd. Er war der Mann für Virginia. Er konnte etwas aufbauen.
Aber die Schönheit einer Laura Stacey erkennen?
Kate ließ ihre innere Stimme lautlos und bitter lachen. Was, zum Teufel, sollte man von einem Kerl erwarten, der nicht einmal die körperlichen Vorzüge seiner Ehefrau zu würdigen wußte? Hatten sich in Devonshire nicht alle aufrechten Burschen nach ihr umgedreht und ihr mit glitzernden Augen nachgestarrt?
Sie hatte nur über die Dorfstraße zu stolzieren brauchen, um sich ihrer Bewunderer sicher zu sein. Mächtig gut hatte sie sich vorstellen können, was in den Köpfen der Kerle vor sich gegangen war, wenn sie den Busen vorgereckt und die Hüften hatte schwingen lassen.
Ihr Vater hätte sich wirklich einen Besseren aussuchen können als den Trottel, an den er sie als Eheweib buchstäblich verschachert hatte. Und was hatte es genutzt? Nicht das geringste!
Der Landlord hatte wieder einmal etwas von seinem Grundeigentum verkaufen müssen, weil ihm für seine Völlerei und seine rauschenden Feste das Geld ausging. Zufällig hatte es sich dabei um das Land gehandelt, das Hugh Flanagan als Pächter beackert hatte.
Kate hatte keine gute Erinnerung an ihren Vater, jetzt schon gar nicht mehr – und das, obwohl sie eigentlich viel von dem Grundsatz hielt, über Tote nichts Schlechtes zu reden. Sie hätte sich gewünscht, an einen herrschaftlichen Haushalt in London