Seewölfe - Piraten der Weltmeere 362. Frank Moorfield
sie mit gefährlich leiser Stimme. „Deshalb wird es Zeit, daß du mich kennenlernst. Ich mag es nämlich nicht, wenn mich ein stinkender Ziegenbock als Hafenhure bezeichnet.“
Wie durch Zauberei lag plötzlich die doppelläufige Pistole in ihrer Hand. Ein Schuß krachte, und aus einem der beiden Läufe stach eine grelle Mündungsflamme hervor. Ohne noch einen Laut von sich zu geben, kippte der hagere Kerl von der Holzbank. Auf seiner Stirn klaffte ein Loch.
Die Queen drehte sich mit steinernem Gesicht um, immer noch die Pistole in der Hand haltend.
„Möchte noch jemand ein anzügliches Kompliment loswerden?“ fragte sie, und ihre Stimme klang unsagbar kalt und böse. „Ich habe noch eine Kugel im zweiten Lauf, und die Haie, die unter der Totenrutsche warten, vertragen bestimmt noch einen zweiten Happen.“
Es herrschte noch immer Totenstille. Niemand rührte sich. Selbst diejenigen, die nach ihren Humpen gegriffen hatten, führten sie nicht zum Mund.
Die Black Queen selber löste die allgemeine Verkrampfung.
„Laß den Toten wegschaffen, Diego“, sagte sie und schob die Pistole in den Gürtel zurück.
Noch während der Wirt dafür sorgte, daß die Schankknechte die Leiche hinaustrugen, ließ sich die schwarze Piratin, als sei nicht das geringste vorgefallen, mit Caligula, Willem Tomdijk, Jaime Cerrana und Emile Boussac in der „frei gewordenen“ Nische nieder.
„Bring uns Wein, Diego“, sagte Caligula, „aber den besten Tropfen, den du im Keller hast.“
Diego, der heftig schwitzte, eilte zum Schanktisch und griff sich einige der bereitstehenden Kruken. Einen Helfer beauftragte er damit, die Humpen zu tragen.
Inzwischen wanderten die Blicke der Queen und ihrer Begleiter durch die Grotte. Eine ganze Reihe von Zechern hatte es plötzlich eilig mit dem Verlassen der „Schildkröte“, viele aber wagten nicht einmal, sich von ihren Plätzen zu erheben.
Den dicken Diego störte es nicht, wenn zahlreiche Holzbänke frei wurden, denn er erwartete noch jede Menge Gäste von den vier Schiffen.
Nachdem die Humpen mit funkelndem Rotwein gefüllt waren, trank die Black Queen einen Schluck und stellte den Humpen auf den Tisch.
„Setz dich, Dicker“, erklärte sie. „Ich habe dir einiges zu sagen.“
Diego verspürte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Was hatte diese Aufforderung zu bedeuten? Was wollte die Black Queen von ihm? Hatte sie gar etwas an seinem Wein auszusetzen? Du lieber Himmel, er hatte wirklich den besten Tropfen aus dem Keller holen lassen!
Der dicke Wirt setzte sich.
„Was – was gibt es?“ fragte er. Er konnte seine Erregung kaum verbergen. Sein Blick wirkte unruhig, und auf seiner Stirn glänzten dicke Schweißtropfen.
„Du kennst doch eine Menge Leute“, begann die Piratin. „Und du hast einige Bedienstete, nicht wahr?“
„Ja-ja, natürlich“, erwiderte Diego und nickte eifrig. „Ich habe einige. Schankknechte – faule Kerle übrigens, denen man öfter mal in den Hintern treten muß.“
„Das ist deine Sache“, fuhr die Queen lächelnd fort. „Jedenfalls könntest du einige davon losschicken, damit sie eine Nachricht über die Insel verbreiten.“ Die Frau lächelte immer noch. Nach einer kurzen Pause, in der sie in langen Zügen von dem guten spanischen Rotwein trank, von dem niemand so recht wußte, wie Diego ihn beschaffte, fuhr sie fort: „Ich werde nämlich ab sofort die Herrschaft über Tortuga antreten, damit dem regierungslosen Zustand auf der Insel ein Ende bereitet wird. Ab sofort bestimme ich, was hier geschieht, ich bin sozusagen das Gesetz. Hast du mich verstanden, Diego?“
Der Wirt war bestürzt, aber er verstand es, diesen Zustand weitgehend zu verbergen.
„Ich – ich habe dich verstanden“, sagte er Hastig. „Du – du wirst die Königin von Tortuga …“
„Irrtum“, sagte die Schwarze. „Ich werde es nicht, ich bin es schon, damit das klar ist!“
„Ganz klar“, bestätigte Diego. „Ich werde dafür sorgen, daß jeder auf Tortuga es erfährt.“
„Das hoffe ich“, sagte die Queen, „denn du bist ab sofort mein Vertrauensmann auf dieser Insel. Deshalb hast du auch als erster von meiner Machtübernahme erfahren.“
„Oh, das ist mir eine Ehre“, beteuerte Diego, obwohl ihm fast speiübel wurde. Nachdem er sich wieder etwas in der Gewalt hatte, fragte er listig: „Da wird sich auf Tortuga wohl einiges verändern, wie?“
Jetzt lachte Caligula dröhnend.
„Und ob, Dickerchen! Hier wird sich eine ganze Menge verändern. Wem das nicht paßt, der kann die Insel ja über die Totenrutsche verlassen.“
Über Diegos Rücken kroch eine Gänsehaut. Er wußte nur zu gut, daß Caligula keine leeren Versprechungen von sich gab. Die Piraten hatten ja gerade erst gezeigt, daß sie nicht lange fackelten, wenn jemand nicht nach ihrer Pfeife tanzte. Der Wirt konnte nicht verhindern, daß er reichlich blaß um die Nase wurde, und er war froh darüber, daß im Schein der blakenden Öllampen, die über den Nischen und Gängen baumelten, sein Gesicht nicht allzu deutlich zu sehen war.
„Außerdem“, fuhr die Black Queen fort, „habe ich an Bord der drei Galeonen etwa dreihundert französische und englische Siedler. Sie werden sich jedoch nur vorübergehend auf Tortuga aufhalten. Die Insel soll nur eine Zwischenstation für sie sein.“
Das klang nicht schlecht für Diegos Geschäft, dennoch wünschte er die mordgierige Piratin samt ihrem Anhang zum Teufel. Er war sich darüber klar, daß während der bevorstehenden Schreckensherrschaft viel Blut fließen würde, denn Caligula hatte ganz bestimmt nicht gescherzt, als er auf die Totenrutsche verwiesen hatte – auf jene westlich des Hafens gelegene Steilklippe, in der sich eine glattgeschliffene, körperbreite Rille befand, die fast senkrecht zum Meer abfiel. Über diese Rille oder Rutsche trat man auf Tortuga seine letzte Reise an.
Diego wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wo, zum Teufel, steckte eigentlich der Seewolf? Und wo waren Ribault, der Wikinger und die Rote Korsarin? Wenn es überhaupt jemand schaffte, dem Treiben der Black Queen einen Riegel vorzuschieben, dann war das der Seewolf mit seinen Freunden. Doch sie alle schienen weit von Tortuga entfernt zu sein.
Der dicke Diego fühlte sich trotz der blühenden Geschäfte nicht mehr wohl in seiner Haut. Daß die Queen ihn zu ihrem Vertrauensmann ernannt hatte, paßte ihm überhaupt nicht, denn es bedeutete nichts anderes, als daß er Spitzeldienste leisten und der Piratin als „Mädchen für alles“ dienen sollte.
Aber was konnte er tun? Sich gegen die Black Queen und Caligula auflehnen? Nein, das wagte auch ein Schlitzohr wie Diego nicht.
Der funkelnde Rotwein schien der Black Queen und ihren Begleitern zu munden, wie Diego mit Erleichterung feststellte. Er mußte die Kruken und Humpen immer wieder neu auffüllen.
Bei Willem Tomdijk und Emile Boussac löste der edle Tropfen schon die Zungen. Die beiden Männer aus El Triunfo, die bisher schweigend und offensichtlich sehr interessiert die Kneipe gemustert hatten, tauten plötzlich auf.
„Der Wein ist wirklich sehr gut“, lobte Willem Tomdijk, der frühere Bürgermeister von El Triunfo. „Wird hier eigentlich auch Bier ausgeschenkt?“
„Natürlich, Señor“, erwiderte Diego, „aber nur in ganz geringem Umfang, denn es ist sehr schwierig, Bier einzukaufen. Deshalb nehmen die Leute eben das, was es gibt, nämlich Wein und Rum.“
Der füllige Niederländer mit dem rosigen Jungengesicht und dem blonden, widerborstigen Haar war über diese Auskunft begeistert.
„Also wird hier doch eine Brauerei gebraucht!“ rief er und strahlte die schwarze Piratin an. „Du hast mir nicht zuviel versprochen. Mit den bierlosen Zeiten auf Tortuga wird es bald vorbei sein. Einige Teile meiner Brauereiausrüstung habe ich ja – Gott sei’s gedankt – noch retten können. Wenn es mir gelingt, auch die noch fehlenden Teile