Seewölfe - Piraten der Weltmeere 211. Roy Palmer
Impressum
© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-547-7
Internet: www.vpm.de und E-Mail: [email protected]
Inhalt
1.
Narayan beobachtete, wie das feinmaschige Netz im Wasser versank, als löse es sich im Nichts auf. Er kontrollierte die Position der kleinen Korkschwimmer, die in der Dunkelheit gerade noch zu erkennen waren, und dann gab er seinem Sohn Chakra durch einen Wink zu verstehen, er solle anrudern, damit sich die Leinen etwas strafften.
Als er sich davon überzeugt hatte, daß sich Netz und Leinen nicht miteinander vertörnen konnten, schaute er in den Himmel.
Der Nachthimmel spannte sich pechschwarz über der See, der Koromandelküste und den Ghats des Dekkans im Landesinneren. Weder die Sichel des Mondes noch ein einziger Stern waren zu sehen. In den gigantischen Wolken, die sich schon am Tag zusammengeballt hatten, schien sich eine Drohung zu verbergen.
Narayan kauerte im Heck seines geräumigen Fischerbootes. Er drehte sich jetzt langsam um und wandte sein hartes, etwas zerknittertes Gesicht, das ihn älter erscheinen ließ, als er in Wirklichkeit war, seinem Sohn Chakra zu.
Chakra saß auf der mittleren der drei Duchten und bewegte mit spielerisch leichtem Schlag die wuchtigen Riemen. Er war ein kräftiger junger Mann mit gut ausgebildeten Muskeln und breiten Schultern, arbeitsam und hilfsbereit, jedoch manchmal etwas zu forsch und draufgängerisch.
„Wir haben noch genug Zeit, bis der Regen einsetzt“, sagte Narayan. „Die Luft ist schwül und gewittergeladen. Die Fische drängen zur Oberfläche des Wassers. Es wird ein guter Fang werden.“
„Wir müssen nur Geduld haben“, meinte Chakra.
„Geduld und Ausdauer“, sagte sein Vater. „Daran soll es uns nicht mangeln.“
„Aber die Wellen werden bald heftiger gehen.“
Narayan lächelte. „Bald, aber nicht sofort. Bis es soweit ist und wir uns in die Bucht des Dorfes zurückziehen müssen, haben wir unsere Fische im Netz, verlaß dich darauf.“
„Vater“, sagte der junge Mann. „Die anderen Männer hätten gut daran getan, sich uns anzuschließen. Warum sind sie unserem Beispiel nicht gefolgt? Sie hören doch sonst auf dich, da du zum Rat der Ältesten zählst.“
„Sie haben Angst. Die Nacht ist voller Gefahren.“
„Aber der Brahmane – was hat er ihnen gesagt, bevor wir ablegten und die Bucht verließen?“ fragte Chakra.
„Der Brahmane sagt, man solle Shiva nicht reizen. Shivas Launen seien unberechenbar in einer Nacht wie dieser.“
Chakra hob die Augenbrauen. „Und diese Ermahnungen schlägst du in den Wind?“
Wieder lächelte Narayan. „Keine Sorge, mein Sohn. Der Brahmane ist klug und weitsichtig, aber nicht allwissend. Vergiß nicht, daß ich ein Panda, ein Schriftgelehrter, bin und die Götter mir ebenso nah sind wie ihm. Ich versichere dir, Vishnu, der Erhaltende, wird Shiva jederzeit zurückhalten, solange wir auf See sind, und auch Rudra, der Gott des Sturmes, wird keine Macht über uns haben.“
Chakra bediente wieder die Riemen, dann sagte er: „Ich habe keine Angst und vertraue dir. Aber ich glaube, die Männer des Dorfes werden uns unseren Fang neiden.“
„Wir werden ihnen davon abgeben.“
„Aber – das haben sie nicht verdient!“ stieß der junge Mann empört aus.
„Sie werden uns die Geste danken, und Vishnu wird dabei auf uns niederblicken“, sagte Narayan. „Vishnu wird uns auch weiterhin wohlgesonnen sein, und das ist gut für unser Karma.“
Chakras Miene wurde starr und trotzig. „Wir mühen uns hier ab, und dann sollen wir einen Teil unseres Fanges verschenken, statt ihn zu verkaufen. Das sehe ich nicht ein und …“
„Schweig!“ unterbrach sein Vater ihn scharf. „Du bist zu jung und zu unerfahren, um dir ein solches Urteil erlauben zu können! Du mußt noch sehr viel lernen in diesem irdischen Dasein, damit du eines Tages einen Platz im Nirwana, im Paradies der unendlichen Glückseligkeit erlangst!“
„Verzeih mir“, sagte Chakra und senkte den Kopf. „Ich wollte dich nicht verärgern.“
Narayans Züge nahmen einen etwas milderen Ausdruck an. Er wollte die Gelegenheit jetzt nutzen, um seinem Sohn einen Vortrag über die Bedeutung und Wirkung des richtigen menschlichen Tuns zu halten, aber plötzlich versteifte sich seine Gestalt, und sein Blick glitt von Chakras Gesicht ab und richtete sich auf die See.
Das Fischerboot lag beigedreht mit seiner Steuerbordseite zu dem aus Nordosten einfallenden Wind gewandt, sein Bug richtete sich also zur im Westen befindlichen Küste, während das Heck auf das offene Meer zeigte.
Narayan vermochte die Erscheinung, die sich zwischen ihrem Boot und der Küste dahinbewegte, deutlich genug zu erkennen, um eine Täuschung auszuschließen.
Der Schatten war groß und bizarr und ganz plötzlich aus der Schwärze der Nacht hervorgewachsen wie Mulayaka, der böse Dämon, vor dem sich alle Hindus fürchteten.
Chakra wartete vergeblich auf die nächsten Worte seines Vaters. Da er jedoch fest damit gerechnet hatte, eine halbe Predigt über die rechte Sittlichkeit und Moral der Menschheit zu hören, hob er den Kopf wieder ein wenig und sah seinen Vater verwundert an.
An dem Blick Narayans, der direkt an seiner rechten Schulter vorbeiging, erkannte Chakra sofort, daß etwas nicht stimmte.
Er drehte sich um und spähte selbst in die Nacht hinaus – und jetzt konnte auch er das düstere Schiff sehen, vor dessen zwei Masten sich dreieckige Segel blähten. Mit südlichem Kurs glitt es dicht unter Land dahin, aber im nächsten Augenblick hatte die Dunkelheit seine Konturen wieder verschluckt.
Chakra fuhr auf der Ducht zu seinem Vater herum und wollte etwas sagen, doch Narayan preßte den Zeigefinger auf die Lippen. Er blickte unausgesetzt zur Küste hinüber und bedeutete seinem Sohn durch eine Gebärde, noch einmal den Kopf zu wenden.
Chakra befolgte die stumme Aufforderung – und fuhr unwillkürlich zusammen.
Das fremde Schiff war wieder da! Wie ein Spuk war es zurückgekehrt, segelte nun wieder von rechts nach links, von Norden nach Süden also, und tauchte kurz darauf in den schweren schwarzen Schleiern der Nacht unter.
„Vishnu“, flüsterte der junge Mann entsetzt. „Steh uns bei, bitte, steh uns bei.“
„Schweig!“