Seewölfe - Piraten der Weltmeere 501. Burt Frederick
Zeitpunkt zu verschieben! Ich denke, wir haben im Augenblick höchst realistische Probleme zu bewältigen, bei denen uns ein Zweites Gesicht nicht sehr viel helfen kann. Ich bitte zu bedenken, daß wir uns auf den nächsten Angriff vorbereiten sollten, der mit Sicherheit nicht lange auf sich warten lassen wird. Waffenreinigen, Munitionsvorräte ergänzen und dergleichen. Zu tun gibt es wahrhaftig genug.“
Die anderen brummten beifällig. Nils Larsen und Sven Nyberg hatten bereits begonnen, die Läufe ihrer Musketen mit den Putzstöcken zu bearbeiten. Martin Correa nickte und fing damit an, die Pulverflaschen einzusammeln, um den Inhalt zu ergänzen.
„Unser Pfannenschwenker trifft mal wieder den Belegnagel auf den Kopf“, sagte Carberry anerkennend. „Und wie schön er das ausdrückt! Wußte gar nicht, daß ich so was kann – an einer Diskussion teilnehmen.“
„Bist ja bloß froh“, sagte Old Donegal zischelnd, „daß du dich elegant aus der Affäre ziehen kannst.“ Er hob die Stimme, als der Profos aufbrausen wollte. „Der Kutscher hat recht. Wir richten uns nach seinem Vorschlag. Hasard und Philip, ihr beiden betätigt euch als Pulveraffen.“
Carberry wandte sich zu den Söhnen des Seewolfs um.
„Wenn ihr oben in der Höhle seid, könnt ihr gleich mal nachsehen, wie es dem kleinen Sir John geht. In Ordnung?“
„Kommt nicht in Frage!“ rief Old Donegal bissig. „Die Nebelkrähe ist absolute Nebensache. Laßt euch nicht erwischen, daß ihr mit dem Mistvieh eure Zeit verplempert. Ihr habt Pulver zu holen und sonst nichts!“
Der Kutscher gab den Jungen mit einer Kopfbewegung zu verstehen, einfach loszumarschieren. Old Donegal zeterte ohnehin noch, als sie längst die Jakobsleiter erreicht hatten, die zum Höhleneingang hinaufführte.
Spätestens seit dem ersten Licht dieses neuen Tages gab es für die Dons an Bord der „San Jacinto“ ein Rätsel weniger. Die Jakobsleiter, die da aus der vier Yards hohen Höhlenöffnung in der Steilwand baumelte, war die Lösung all dessen, worüber sich die Goldgierigen in den letzten Stunden vermutlich den Kopf zerbrochen hatten.
Und trotzdem war ein weiteres Rätsel noch immer ungelöst: Woher, in aller Welt, nahmen die Unbekannten, denen der zweisprachige Papagei gehörte, bloß ihre Energie? Wie hatten sie die unvorstellbare Strapaze bewältigt, eine ganze Schiffsladung von Goldkisten in diese winzige Höhlenöffnung zu wuchten, die noch dazu so hoch über dem Erdboden lag?
„Ein bißchen mulmig ist mir doch“, sagte Hasard junior, als er mit seinem Bruder das untere Ende der Jakobsleiter erreichte. Die Felswand über ihnen war wie ein vorspringendes Dach, denn der Überhang hoch über der Grottenöffnung neigte sich ein beträchtliches Stück nach vorn, der Bucht zu.
„Wieso?“ fragte Philip begriffsstutzig. „Meinst du, Sir John ist in seiner Kiste erstickt?“
„Unsinn! Ich rede von den Spaniern.“ Hasard deutete mit dem Daumen über die Schulter. „Die haben doch bestimmt Stielaugen, seit sie sehen, was es mit der Jakobsleiter auf sich hat. Stell dir vor, die versuchen es mit einer weittragenden Muskete, wenn wir auf entern.“
Philip wandte sich um und blickte zu der Galeone, die vor den westlichen Riffs ankerte.
„Die Amigos werden sich hüten, sage ich. Die haben noch genüg von der Kanone, die ihnen um die Ohren geflogen ist. Ich würde jedenfalls keine Muskete abfeuern, die eine zu starke Ladung im Rohr hat. Außerdem werden sie sich jetzt erst mal zusammenreimen, was sich hier abgespielt hat.“
Hasard nickte. „Hoffen wir, daß du recht hast.“
„Los, beeil dich“, drängte sein Bruder. „Mister O’Flynn bringt es fertig, uns höchstpersönlich Dampf unter dem Hintern zu machen, wenn wir nicht schnell genug sind. Und dann haben wir nicht genug Zeit für Sir John.“
Hasard brummte zustimmend und begann, aufzuentern. Jeden Moment rechnete er mit einer Kugel, die haarscharf neben ihm auf den Felsen prallte, sich abplattete und als handtellergroßer Bleipfannkuchen in den Sand fiel. Doch nichts dergleichen geschah.
Gefahrlos bewältigte Hasard junior als erster den Aufstieg zum Felsenloch. Sein Bruder folgte ihm mit zügig-kraftvollen Bewegungen.
Die beiden Jungen waren sich voll und ganz der Tatsache bewußt, was sie den Spaniern an Bord der „San Jacinto“ verdeutlichten. Eben jenen Umstand nämlich, der seit Tagesanbruch offenkundig geworden war. In der Nacht hatten die „Räuber“ des Goldschatzes ihre sichere Höhle verlassen und sich bis an die Zähne bewaffnet hinter den Uferfelsen postiert.
Philip junior erreichte gleichfalls den Grotteneingang. Einen Moment blickten die Brüder zum Strand hinunter, wo die Männer vom Bund der Korsaren in Deckung lagen und die Galeone aufmerksam beobachteten.
Es war die logische Folgerung gewesen, die Höhle zu verlassen und dort unten in Stellung zu gehen. Nachdem man die beiden großen Jollen der „San Jacinto“ gekapert hatte, waren die Voraussetzungen für die Dons ungleich schlechter geworden. Und wenn sie es dennoch mit der kleinen Jolle versuchten, konnte man ihnen nur vom Strand aus einen gebührenden heißen Empfang auf breiter Front bereiten – wie geschehen.
Auf die Heimlichtuerei hatte man so oder so verzichten können. Denn die Voraussetzungen für die Verteidigung waren ungleich besser geworden. Dieser hirnrissige Bursche von einem Kapitän mußte sich schon etwas einfallen lassen, wenn er mit seinen fünfzehn Mann noch etwas ausrichten wollte.
„Hurtig, hurtig“, sagte Hasard und ahmte dabei den Tonfall des Profos nach. „Bewegen wir uns, sonst erstickt der arme Sir John womöglich noch.“
Philip nickte nur. Gemeinsam eilten sie los, in den hinteren, sich erweiternden Bereich der Grotte, wo die Goldkisten, die Proviantvorräte und die Ausrüstungsgegenstände von der „Viento Este“ lagerten. Die beiden Jungen arbeiteten rasch und zielstrebig. Innerhalb von wenigen Minuten hatten sie sechs Pulverfäßchen und ein Dutzend lederne Kugelbeutel zur Felsenöffnung geschleppt.
Hasard deutete auf das gestapelte Segeltuch und die Taurollen.
„Den Ladebaum haben wir zwar nicht mehr zur Verfügung, aber ich denke, wir kriegen den ganzen Kram trotzdem auf einmal nach unten.“
„Eine Persenning und ein Tau“, entgegnete Philip und nickte. Dann hieb er seinem Bruder begeistert auf die Schulter. „Klar! Damit haben wir noch mehr Zeit gewonnen.“
Gemeinsam schleppten sie in aller Eile einen Tuchballen und eine Taurolle nach vorn. Dann kehrten sie in den hinteren Bereich zurück, wo auf einem Felsvorsprung eine einsam blakende Laterne stand.
Behutsam zogen sie die Proviantkiste, in der Ed Carberry den vorlauten Vogel verstaut hatte, zwischen den Goldkisten hervor. Die Jungen runzelten die Stirn, als sie die Kiste auf den Boden stellten und begannen, die seitlichen Verzurrungen zu öffnen. Zwar war es einerseits vorteilhaft, daß Sir John in seinem Verlies kein freudiges Gezeter anstimmte – was letzten Endes verräterisch gewesen wäre. Andererseits war die totale Stille in der Kiste aber auch besorgniserregend.
„Vielleicht ist er beleidigt“, sagte Hasard, als er den Kistendeckel öffnete.
„Zuzutrauen wär’s ihm.“
Im nächsten Moment erstarrten die Brüder und rissen den Mund vor Schreck weit auf.
Der karmesinrote Papagei lag auf der Seite, regungslos, die Knopfaugen weit geöffnet und stumpf.
„Um Himmels willen!“ hauchte Hasard. „Vorhin haben wir gespottet, und jetzt ist es tatsächlich passiert!“
„Der arme Kerl“, flüsterte Philip und strich über die Schwingenfedern Sir Johns. Tränen standen in den Augen des Jungen. „Das hat er nun wirklich nicht verdient.“
„Nein, das nicht“, sagte Hasard mit erstickter Stimme. „Wir hätten an Luftlöcher denken sollen.“
„In der Eile? Wir mußten doch aufpassen, daß Mister O’Flynn nichts mitkriegt.“
„Was im Grunde keine Entschuldigung ist.“
„Nein,