Seewölfe - Piraten der Weltmeere 614. Jan J. Moreno

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 614 - Jan J. Moreno


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mit dem aus Sandsäcken bestehenden Ballast, der sich nun neben dem Schott türmte, und mit allerlei Ungeziefer.

      Tief atmete Henford durch, als er den Niedergang zur Kuhl erreichte. Augenblicke später stand er an Deck und hielt sich an einem Tau fest. Die kühle Seeluft stach in seine Lungen und ließ seine Knie weich werden. Die eigene Schwäche erschreckte ihn.

      Eine klamme, bedrückende Feuchtigkeit herrschte. Hinter dem Schanzkleid wogte der Nebel in dichten Schwaden, achteraus war die aufgehende Sonne lediglich als trüber Fleck inmitten der Düsternis zu erahnen.

      Schlaff hing das Tuch von den Rahen. Jeremiah Henford hatte wenig Ahnung von Seemannschaft, aber daß die Galeone selbst unter Vollzeug wie ein bleierner Fisch im Wasser lag, erschreckte ihn.

      Konnte die Einsamkeit schlimmer sein als das Gefühl, in der Nebelbank von Raum und Zeit abgeschnitten zu sein? Wo befanden sich die anderen Schiffe?

      Der Nebel ließ das Deck glitschig werden. Vorsichtig enterte Henford zur Back auf. Seine Tochter Ireen hatte sich vor dem Morgengrauen hierher zurückgezogen. Mit dem dreijährigen Jonas, der unter Deck fast ständig weinte. Jetzt schlief der Junge, Hunger und Erschöpfung hatten also doch ihr Recht gefordert. Auch Ireen döste vor sich hin. Sie bemerkte ihren Vater erst, als er neben der Nagelbank in die Hocke ging.

      „Es ist alles in Ordnung“, flüsterte Jeremiah beruhigend.

      „Und Mam?“ fragte Ireen schlaftrunken.

      „Ihr Zustand hat sich nicht verändert.“

      „Mein Gott, was soll nur werden?“

      Ireen hatte geweint. In ihren Augen, die stets voll Fröhlichkeit gewesen waren, lag ein feuchter Schimmer.

      „Sieh voraus“, mahnte ihr Vater. „Die Neue Welt wird uns für alles entschädigen. Wichtig ist nur, daß wir nicht den Glauben verlieren.“

      „Und die, die auf der ‚Discoverer‘ ertrunken sind, hat ihnen ihr Glaube geholfen?“ Wie das Mädchen, eigentlich schon eine junge Frau, das sagte, klang es überaus verbittert.

      „Ireen!“ fuhr Henford sie an. „Versündige dich nicht! Sei dankbar dafür, daß wir am Leben bleiben durften.“

      „Und wie lange noch? Drei Tage, vielleicht sogar vier? Und dann?“

      „Die Flaute geht vorüber. Du wirst sehen …“

      „Woher nimmst du deine Sicherheit, Dad? Alles ist so anders, als wir uns erträumten. Wir sind nicht mehr als Schafe, die man zusammengetrieben hat und die vor dem Wolf zittern. Zum Leben haben wir zuwenig, aber zum Sterben ist es noch zuviel, was uns der Kapitän vorsetzen läßt.“

      „Unser Herr, als der Satan ihn in Versuchung führte, besaß noch weniger.“

      „Trug er, wie Mutter, ein Kind unter dem Herzen?“

      „Ireen!“ Jeremiah Henford war stolz darauf, seine Tochter nie hart oder gar ungerecht behandelt zu haben. Aber jetzt lagen eine Schärfe und Zurechtweisung in seiner Stimme, die Ireen erschrocken zusammenfahren ließen. Sogar der kleine Jonas schreckte auf. Sein heiseres Schluchzen vermischte sich mit dem Weinen anderer Kinder, das durch die Grätings nach oben drang.

      Henfords Miene wirkte wie versteinert, als er sich abrupt umwandte.

      „Dad, was hast du vor?“

      Falls er die Frage hörte, bereitete er sich zumindest nicht die Mühe, seiner Tochter zu antworten, Ireen sah nicht, daß er die Hände zu Fäusten gebaut hatte.

      Jeremiah Henford schluckte schwer, als stecke ihm eine Gräte im Hals. Doch in Wirklichkeit war es die Sorge um die Seinen, die ihn quälte. Und nicht viel weniger der Hunger, der zunehmend stärker in den Eingeweiden wühlte. Seit drei Tagen, als Elizabeth zum erstenmal die Anzeichen von Fieber erkennen ließ, teilte er seine ohnehin kärglichen Essensrationen mit ihr. Sie war jetzt in einem Zustand, in dem sie mehr brauchte als nur wenige karge Bissen. Aber was die Sorgen und Nöte der Passagiere betraf, hatte jeder Offizier an Bord zwei taube Ohren.

      Angewidert spie Henford aus. „Schinderpack“, stieß er gepreßt hervor. „Bestimmt leidet ihr selbst noch keinen Mangel.“

      Unwillkürlich lenkte er seine Schritte zur Kombüse. Das wurde ihm allerdings erst klar, als er vor dem betreffenden Schott stand. Einen Herzschlag lang zögerte er. Aber was hatte er schon zu verlieren? Entschlossen ging er weiter.

      Unter dem großen Kessel brannte zu dieser frühen Stunde ein spärliches Feuer. Der Rauch kräuselte sich durch den Abzug zur Back hoch. Es roch nach Harz und ganz leicht nach Speck. Vom kochenden Inhalt des Kessels geradezu magisch angezogen, griff Henford nach einer herumliegenden Kelle.

      Nur einmal kosten, dachte er. Nur das Aroma des zerfallenden Specks und des aufgeweichten Zwiebacks auf der Zunge spüren. Der Herr wird wohl beide Augen zudrücken.

      Doch Henford hatte den Koch vergessen. Und der war leider ganz und gar nicht gewillt, eine einzelne Ration auszuteilen.

      „Du, Kerl, laß deine schmutzigen Finger da weg!“ erklang es wütend. „Lausiges Diebsgesindel schätze ich gar nicht.“

      Jeremiah Henford, die Kelle schon nach der dünnen Suppe ausgestreckt, wandte zögernd den Kopf. Er schwankte zwischen dem drängender werdenden Hungergefühl und der Erkenntnis, sich selbst einen verdammt schlechten Dienst zu erweisen.

      Der Koch stand neben dem Vorratsschapp und funkelte den ungebetenen Eindringling herausfordernd an. Wer die Kombüse betrat, konnte ihn nicht auf Anhieb sehen. In der Linken hielt er ein Messer, das einem Schiffshauer an Größe kaum nachstand. Sein aufgedunsenes Gesicht war gerötet, die stechenden Schweinsäuglein lagen tief in den Höhlen.

      „Dich sollte man kielholen“, fauchte er, und die Klinge zeigte geradewegs auf Henfords Bauch.

      „Nur eine halbe Muck voll von der Brühe“, bat Jeremiah. „Meine Frau ist schwach.“

      „Verschwinde! Oder ich nagle dich an den nächsten Mast.“

      „Sie erwartet ein Kind.“

      „Und wennschon“, erklang es wenig gefühlvoll. „Allen geht es dreckig.“

      „Sir, ich bitte Sie. Das Fieber und die Schwäche bringen Elizabeth um.“

      Die Haltung des Kochs ließ keinen Zweifel daran, daß er Henford ans Leder gehen würde.

      „Wo kämen wir hin, wenn jeder seinen eigenen Kurs läuft?“ sagte er wütend.

      Mit hängenden Schultern, um eine Hoffnung ärmer, zog sich Jeremiah zurück. Vor der Kombüse atmete er erst einmal tief durch. Er war bereit, Elizabeth und der Kinder wegen auf alles zu verzichten. Aber wie lange konnte er das durchhalten? Zwei Tage noch, vielleicht sogar drei, doch dann würde die Schwäche unweigerlich ihren Tribut fordern.

      Der Klang der Schiffsglocke hallte über die Decks. Acht Glasen. Allmählich wurde es an Bord lebendig. Aber es gab wenig zu tun, solange der Wind nicht auffrischte. Die Mannschaft verbrachte die Tage mit Ausbesserungsarbeiten. Schon wieder breitete sich der Geruch von erhitztem Pech aus, mit dem die Nähte zwischen den Plankengängen kalfatert wurden.

      Von irgendwoher erklang das monotone Geräusch einer Lenzpumpe.

      Eine innere Unruhe trieb Henford zu seiner Frau zurück. Er begegnete einigen Seeleuten, doch beschränkte sich der Kontakt auf ein knappes Kopfnicken. Wie so meist. Die Kluft zwischen den Pilgern und der Mannschaft, die von Anfang an bestanden hatte, wurde zunehmend deutlicher. Vermutlich gaben die Seeleute den Auswanderern aus der alten Heimat die Schuld an den Zuständen an Bord.

      Henford sah das ein wenig anders. Wenn Kapitäne wie Robert Granville von der „Discoverer“ um des Profits willen mehr Passagiere an Bord nahmen als zuträglich und dafür womöglich Proviant an Land zurückließen, dann war das einzig und allein ihre Verantwortung.

      Der Herr mochte ein Einsehen haben und nicht die Pilger dafür strafen. Blutopfer waren genug gezollt worden. Die Cholera an Bord der „Explorer“


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