Seewölfe - Piraten der Weltmeere 133. Roy Palmer
Kann hier jemand seinen Patriotismus und seine Karrieresucht nicht wenigstens mal für ein paar Minuten hintenanstellen?“
Der Teniente blickte jetzt noch verstörter drein. Zweifellos war er in diesem Moment nicht das eherne, leuchtende Vorbild, das der Anführer einer Festungswache seinen Untertanen gegenüber zu sein hatte.
„Teniente“, sagte Eliseo eindringlich. „Dieser Mann hat uns allen das Leben gerettet. Oder zweifeln Sie daran, daß Manuelito und seine Spießgesellen uns alle über die Klinge hätten springen lassen?“
„Ich nicht“, sagte Javier.
Der Teniente räusperte sich. „Einverstanden. Inspizieren wir jetzt den Turm, äh, ich meine natürlich das, was davon übriggeblieben ist.“
Hasard drehte sich um und lief als erster auf die Trümmer zu. Er rechnete jetzt nicht mehr damit, von dem Teniente oder von einem übereifrigen und zu pflichtbewußten Soldaten eine Kugel in den Rücken zu erhalten – wenn er auch der Meinung war, daß der Yoruba Rasome etwas zu voreilig gehandelt hatte, als er die Festungswache befreit hatte.
Aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern.
Richtig, Hasard war Spaniens Feind Nummer eins. Aber eine Feuerpause, ein Waffenstillstand – ein Burgfrieden im wahrsten Sinne des Wortes war das mindeste, was er hier von den Dons verlangen konnte. In dieser Beziehung war Bescheidenheit wirklich fehl am Platze.
Sicher war, daß sich auch Dona Adriana dafür einsetzen würde, daß Hasard und seinen Männern hier kein Haar gekrümmt wurde. Daß beispielsweise der Teniente nicht glaubte, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können, indem er jetzt, nach dem Sieg über die Piraten, die Männer der „Isabella“ festnahm. Aber Hasard dachte nicht daran, sich auf die Anordnungen der schönen Frau zu stützen. Er hatte seine persönlichen Angelegenheiten bislang selbst bereinigt, und so sorgte er auch hier, auf Sao Tomé, dafür, daß man ihn respektierte und ihm nicht in die Seite fiel.
Hasard kletterte über die Brocken von zerrissenen Quadersteinen und suchte zwischen den Fundamenten des Nordturmes nach der Leiche des Piratenführers.
Eliseo und Javier hatten sich Pechfackeln besorgt. Sie zündeten sie an, traten zu dem Seewolf und leuchteten das Trümmerfeld aus.
Rasome sah sich besorgt um und sagte: „Senor Killigrew, Vorsicht! Von den Wehrgängen könnten noch Steine herunterstürzen. Einige hängen sehr locker.“
„Danke“, erwiderte Hasard. Er blickte zu den beiden Soldaten auf. „Paßt auf, daß ihr keine Beulen in eure Helme kriegt.“
„Nein, Senor“, sagte Eliseo, und dieses „Senor“ kam ihm ganz selbstverständlich über die Lippen. Er konnte schon wieder grinsen, obwohl er noch immer kalkweiß im Gesicht war – wegen des Schrecks, der ihm wie den anderen in dieser Nacht gleich mehrfach in die Knochen gefahren war, und obwohl er unter seinem Helm fürchterlich schwitzte – wegen der Hitze, die auch jetzt, gegen Morgengrauen, kaum abklang.
Aber es war besser, im Freien zu schwitzen und die neu gewonnene Freiheit zu genießen, als in einem schlecht gelüfteten Raum zu brüten und nicht zu wissen, was die nahe Zukunft brachte.
Hasard untersuchte die Reste des Turmes und schob sich immer weiter vor. Auf diese Weise geriet er an die äußere Kante der Fundamente. Von hier aus konnte er auf die nur wenige Yards tiefer glitzernde Oberfläche des Atlantiks blicken. Nachdenklich blieb er stehen.
„Das ist merkwürdig“, sagte er.
Der Teniente war neben ihm angelangt und gab ihm durch eine Geste zu verstehen, daß er die Worte nicht begriffen hatte. Hasard, der unwillkürlich wieder in seine Muttersprache verfallen war, wiederholte auf spanisch, was er laut gedacht hatte.
„Ich weiß immer noch nicht, was Sie meinen“, erklärte der Teniente begriffsstutzig.
Hasard blickte ihn wieder an. „Versuchen Sie mal, mir geistig zu folgen, ja? Wenn ich mich nicht irre, muß sich in unserer Nähe jenes Nebentor befinden, das auf den Kai der Festung hinausführt. Dona Adriana hat mir davon berichtet. Sie floh mit der Zofe Sandra und Rasome durch dieses Tor.“
„Eine Treppe führt vom überdachten Gang aus zu dem Tor hinunter“, sagte der Teniente. Seine Miene war ein einziges Fragezeichen.
Rasome, der sich zu ihnen gesellt hatte, hatte noch die Worte des Offiziers verstanden.
„Ja“, fügte er lächelnd hinzu. „Dort drüben, im Dunkel hinter den Arkaden, siehst du, Lobo del Mar?“ Er wies mit dem Finger auf den entsprechenden Punkt des Innenhofes.
Hasard nickte. „Gut. Und nun weiter, Teniente. Hätte Manuelito nicht dieses Tor benutzen können, um sich aus dem Kastell abzusetzen?“
„Vielleicht wußte er überhaupt nicht, daß es existiert …“
„So dämlich kann er nun auch wieder nicht sein“, entgegnete Hasard. „Nein, ich nehme vielmehr an, daß er diesen Weg für zu gefährlich hielt. Dan O’Flynn und Smoky, die auf dem südlichen Wehrgang Posten bezogen haben, hätten ihn nämlich auf der kurzen Strecke, die von der Treppe zum Tor führt, entdekken können. Habe ich recht, Teniente?“
„Sie scheinen sich ja bestens auszukennen …“
„Ich sagte Ihnen doch, man hat mir ausführlich über die Festung berichtet.“
„Was hat Dona Adriana Ihnen noch alles verraten?“ wollte der Teniente wissen.
Hasards Mundwinkel zuckten leicht, aber es war schwer herauszufinden, ob es sich um den Anflug eines spöttischen Lächelns oder um den Ausdruck von Verärgerung handelte. Er antwortete: „Soviel wie nötig war, um unseren Schlag gegen Manuelito glücken zu lassen. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu bereiten, Teniente, falls das Kastell irgendein Geheimnis birgt, so kriege ich dies bestimmt heraus. Aber zurück jetzt zu unserem eigentlichen Gespräch. Manuelito hätte es riskieren können, das Nebentor zu erreichen. Trotzdem hat er den Nordturm als Versteck gewählt. Warum?“
„Er glaubte, sich bewaffnen und den Kampf noch für sich entscheiden zu können“, meinte der Teniente.
Rasome schüttelte hinter seinem Rücken den Kopf. Eliseo und Javier, die den Dickschädel und das etwas begrenzte Kombinationsvermögen ihres Vorgesetzten genau kannten, quittierten dies mit einem Grinsen.
Hasard schob die Unterlippe vor. „Nein“, erwiderte er. „Er wollte uns nur noch eins auswischen und dann verschwinden. Ich schätze, das ist ihm auch geglückt. Eine geringe Menge Pulver mehr, und ein Teil des Hauptgebäudes wäre mit in die Luft geflogen.“
„Aber Sie haben auf den Turm geschossen, Killigrew“, ereiferte sich der Teniente. „Und wahrscheinlich haben Sie diesen Hund von einem Piraten auch getroffen.“
„Das glaube ich nicht. Jetzt nicht mehr.“
„Schön, dann ist er eben nur verwundet worden. Auf jeden Fall aber hat die Explosion ihm den Rest besorgt.“
Hasard mußte lachen. Es war ein kurzes, trockenes Auflachen, und seine Augen blieben dabei ernst. „Wieder irren Sie sich. Sehen Sie hier irgendwo die Leiche von Manuelito?“
„Nein. Die Wucht der Explosion hat ihn zerrissen – in winzige Teile.“
„Praktisch ist das undenkbar. Wir müßten zumindest kleine Reste seines Körpers finden. Wenigstens Blut, das an den Trümmern haftet“, sagte Hasard. „Aber nichts dergleichen läßt sich hier feststellen. Manuelito scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.“
„Unmöglich“, protestierte der Teniente. „Sowas gibt es nicht. Sie wollen doch wohl nicht behaupten, daß dieser Pirat über übernatürliche Kräfte verfügt!“
„Keineswegs.“
„Wenn das so ist, wie Sie sagen, kann er nur die Flucht angetreten haben, bevor der Turm in die Luft ging.“
„Wirklich, Teniente?“
„Man muß den Bastard suchen, damit er seine gerechte