Seewölfe - Piraten der Weltmeere 342. John Curtis
Hutten berührte ihn sacht an der Schulter.
„Dir ergeht es wie uns allen dereinst“, sagte er. „Wir alle, auch der Seewolf, fanden keine Erklärung für die merkwürdigen Vorgänge im Schlangentempel, und anfangs hielten wir den Schlangengott sogar für einen Götzen. Nur Siri-Tong ermahnte uns immer wieder, den Schlangengott ernst zu nehmen, und dann taten wir es schließlich auch. Ich sage dir, Hesekiel, dieser Schlangengott ist alles andere als ein Götze. Seine Voraussagen und seine Prophezeiungen haben, sich noch immer erfüllt. Und wenn du im Tempel vor ihm stehst, wenn seine grünen Augen dich anglühen, dann weißt du plötzlich, daß er über Kräfte verfügt, für die uns jede Erklärung fehlt. Ich sage dir, dieser Schlangengott ist ein lebendiger Gott, und wehe dem, der sich seinen Zorn zuzieht!“
Der alte Ramsgate starrte den Halbindianer von Hutten an. Er wußte, daß gerade von Hutten niemals auch nur ein Wort mehr sagen würde, als er verantworten konnte. Aber es war auch das erstemal, daß er so zu ihm gesprochen hatte.
„Komm jetzt, wir sollten uns wirklich um die ‚Wappen von Kolberg‘ kümmern, das Wetter wird bald losbrechen …“
Und als ob er mit seiner Prophezeiung recht behalten sollte, zuckte in diesem Moment ein erster, greller Blitz über den dunklen, düster leuchtenden Himmel. Anschließend fuhr eine Bö durch die Schlangenbucht, die so heftig war, daß sie die beiden Männer beinah umwarf.
Hastig löschten von Hutten und Ramsgate das Feuer, dann rannten sie ebenfalls zur Werft hinüber.
2.
Knapp 100 Seemeilen südwestlich der Schlangeninsel, dort wo sich das Unwetter über der Karibik zusammengebraut hatte, befand sich die „Mocha II.“ mit Arkana und ihren Schlangenkriegerinnen.
Die Schlangenpriesterin hatte den Himmel schon eine ganze Weile vor Sonnenuntergang zu beobachten begonnen. Sie lebte jetzt schon so lange in der Karibik, daß sie Anzeichen wie diese durchaus richtig zu deuten wußte. So war weder ihr noch den Schlangenkriegerinnen, die die Ausgucks besetzt gehalten hatten, jene zunächst nur winzig kleine Verfärbung des Himmels entgangen. Schwefelgelb schob es sich über die Kimm empor, wuchs dann aber rasch weiter zu einer respektablen Wolke an, in deren Färbung sich noch vor Sonnenuntergang düstere violette Töne mischten. Aber noch blieb die See ruhig, und noch wehte ein beständiger Wind aus Süd.
Tatona, die Unterführerin Arkanas, zugleich Anführerin der Tempelwache auf der Schlangeninsel, stand neben Arkana auf dem Achterkastell der „Mocha II.“, und auch sie beobachtete den Himmel angespannt.
„Wir sollten eine der Caicos-Inseln anlaufen, Arkana“, sagte sie schließlich und ließ ihren Blick über die kleine Galeone wandern. Die „Mocha II.“, eigentlich nur ein provisorischer Ersatz für die im Kampf um die Schlangeninsel verlorengegangene „Mocha“, war ein bereits betagter Segler. Zwar hatte die Galeone bisher durchaus genügt, um damit die wenigen Fahrten zu unternehmen, zu denen es die Schlangenpriesterin von Zeit zu Zeit trieb, aber mittlerweile hätte sie längst gegen ein größeres, stärkeres Schiff ersetzt werden müssen. Denn auch auf Arkana und ihre Araukaner, männlich wie weiblich, konnte es eines Tages zukommen, sich gegen einen mächtigeren Feind behaupten zu müssen. Das aber vermochte die „Mocha II.“ nicht – denn auch ihre Bewaffnung, sechs 17-Pfünder und vier Drehbassen, reichte dazu nicht aus. Hinzu kam auch noch, daß die alte Galeone alles andere als ein schneller Segler war. Und da hatte auch die ganze Kunst des alten Ramsgate nicht viel zu ändern vermocht, auch wenn die neue Takelage ihr nur einige Meilen mehr in der Stunde verschaffte.
Die „Mocha II.“ war und blieb, gemessen an den anderen Schiffen der Schlangeninsel, das schwächste Glied in der Verteidigungskette.
Arkana wußte das. Und natürlich hatte sie Hesekiel Ramsgate recht gegeben, daß die „Mocha II.“ durch einen Neubau ersetzt werden mußte, und sie gedachte auch, dieses Problem nach ihrer Rückkehr sofort mit ihm zu besprechen. Aber da war noch jener rätselhafte Auftrag, den sie vom Schlangengott, tief im Innern des Tempels, erhalten hatte.
„Besteige dein Schiff, Arkana“, hatte der Schlangengott gesagt. „Segle in Richtung Südwest. Der Schlangeninsel droht Gefahr, schwerer und schlimmer als jemals zuvor. Du wirst diejenige sein, die sie erkennt …“
Alles Fragen hatte nichts geholfen, nur die grünen Augen des Schlangengottes leuchteten immer zorniger, je mehr Arkana zu erfragen versuchte. Und schließlich glommen sie abermals auf, schienen den ganzen Tempel mit ihrem drohenden grünen Licht zu erfüllen, und Arkana hatte das Gefühl, daß tausend brennende Augenpaare sie zugleich anstarrten.
Da sank sie vor der Statue des Schlangengottes inmitten der züngelnden Flammen des heiligen Feuers, das die Statue kreisförmig umgab und von ihr wie vor jeder Meditation mit dem Schlangengott entzündet worden war, in sich zusammen.
„Tu jetzt, was ich dir sage. Arkana. Nimm einen Teil deiner Kriegerinnen mit. Ihr werdet Schweres erdulden, es wird eine harte Prüfung sein, die ich euch auferlege, aber nur so vermag ich euch und allen, die eure Freunde sind, zu helfen …“
Die Augen des Schlangengottes erloschen, zugleich mit ihnen auch die Flammen des heiligen Feuers – und so segelte Arkana mit dem nächsten Mahlstrom durch den Felsendom hinaus aufs weite Meer. Aber niemand wußte um den Auftrag, den ihr der Schlangengott gegeben hatte. Alle, die sich auf der Schlangeninsel befanden und ihr nachblickten, dachten, daß es sich um eine Erprobungsfahrt der überholten „Mocha II.“ handelte.
Das alles ging Arkana durch den Kopf, als Tatona sie ansprach. Und so dauerte es eine Weile, ehe sie antwortete.
„Der Schlangengott hat nicht befohlen, wohin wir zu segeln haben. Vielleicht schickt er uns dieses Unwetter, und deshalb wird es auch seinem Willen entsprechen, daß wir die nächstgelegene Insel anlaufen, um dort Schutz zu suchen. Veranlasse das alles, Tatona, du weißt, welche Insel wir vielleicht noch erreichen können. Wir laufen dort in jene Bucht ein, in der wir schon einmal vor einem Sturm Zuflucht gesucht haben …“
Tatona, schlank und bildschön wie alle Kriegerinnen der Tempelwache, nickte. Sie kannte Arkana schon lange, und sie war auch die älteste Kriegerin der Tempelwache. Tatona war noch auf der Insel Mocha geboren worden, sie hatte wie Arkana den Kampf um die Todesbucht an der Seite des Seewolfs miterlebt und auch die Befreiung Arauas aus den Händen des machtgierigen Alkalden, als der Seewolf die Mocha-Insel zum zweitenmal anlief und von der Existenz seiner kleinen Tochter Araua erfuhr …
Tatona war neben Araua die engste Vertraute Arkanas, sie teilte mit ihr alle Geheimnisse. Jetzt gab sie die nötigen Anweisungen, während Arkana wie geistesabwesend auf dem Achterdeck stand. Aber dieser Eindruck, das wußte Tatona nur zu gut, täuschte, denn Arkanas Sinne waren gerade jetzt hellwach. Sie befand sich in jenem Zustand, der das Vorstadium zur Meditation mit dem Schlangengott bildete.
Flüchtig erschien das Bild Arauas vor Tatonas geistigem Auge. Bei Araua war vieles anders als bei ihrer Mutter Arkana. Sie vermochte bisweilen ohne jede Meditation Verbindung zum Schlangengott aufzunehmen. Er konnte ihr von einer Sekunde zur anderen erscheinen. Ein Vorgang, der bei Arkana nur recht selten zu verzeichnen war.
Doch dann mußte Tatona sich auf die Führung der „Mocha II.“ konzentrieren. Der Himmel hatte sich nun bezogen, die ersten Blitze zuckten vom Firmament ins Meer hernieder, begleitet vom krachenden, betäubenden Donner, der ihnen folgte. Die ersten harten Böen griffen nach der „Mocha II.“ und ließen sie weit nach Backbord krängen.
Auf einen Befehl von Tatona enterten die Schlangenkriegerinnen auf und bargen einen Teil der Segel. Gerade noch rechtzeitig, denn kaum, daß sie sich wieder an Deck befanden, setzte der Sturm ein. Ein düsterer, violetter Schimmer lag über der See, ein gespenstisches Leuchten, wie aus den Grüften ungezählter Toter geboren.
Arkana riß sich aus ihrer Meditation, denn der Schlangengott schwieg. Sie trat an die Schmuckbalustrade. Tatona und sie kannten diesen Teil der Karibik genau. Die Insel mußte schon bald vor ihnen auftauchen. Das düstere Leuchten und das grelle, gleißende Licht, das die immer wieder herniederzuckenden Blitze abgaben, ermöglichte es ihnen, trotz der bereits