Seewölfe - Piraten der Weltmeere 573. Davis J.Harbord
er flinke Finger hat, an denen immer etwas kleben bleibt, hat er mit seinem Brotklauen bewiesen …“
„Was soll das Gequatsche?“ unterbrach ihn ein vierschrötiger Kerl, der an der gegenüberliegenden Wand angekettet war. Er hatte eine zweifingerbreite Stirn, dafür aber ein Kinn wie ein Hackklotz. „Ich will jetzt sehen und hören, wie das Frettchen auf dem letzten Loch pfeift. Klar?“
Der Ragusaner warf ihm einen trägen Blick zu. „Bestimmst du hier? Oder wer? Du bist doch so dämlich, daß du erst übermorgen kapierst, wenn dir morgen ein Stein auf den Kopf fällt.“
„Wie?“ fragte der Vierschrötige verdattert.
Er stammte aus Bari, und so wurde er auch genannt – ähnlich wie der Ragusaner, von dem sie lediglich wußten, daß er vor seiner Verbannung quer über die Adria geräubert und bei Ragusa einen Schlupfwinkel gehabt hatte.
Unbestritten übte der Ragusaner oder Ragusa, wie sie ihn nannten, eine Art Autorität über diese Strolche aller Schattierungen aus. Er war hager, hart im Nehmen und unheimlich zäh. Außerdem hatte er Grips im Kopf, und zwar mehr als seine Kerkergenossen.
Jetzt sagte er: „Schon gut, Bari. Überlaß mir das Denken und halt’s Maul.“
Der Vierschrötige zog den Kopf ein und sagte nichts mehr. Aber er starrte mit tückischen Augen zu dem Frettchen.
Coltello sagte: „Schieß los, Ragusa. Du hast was auf der Pfanne.“
Der Ragusaner nickte. „Stimmt. Ich habe vor, mit euch hier auszubrechen.“
Sie starrten ihn an, als habe er ihnen eben verkündet, daß ihnen in den nächsten fünf Minuten gebratene Hähnchen ins Maul fliegen würden, die Mäuler hatten sie nämlich schon offen. Das war eine Studie wert. Bei einigen fehlten bereits die Zähne, oder sie hatten nur noch Stummel. Das waren jene, die am längsten hier einsaßen und bisher überlebt hatten. Der Ragusaner befand sich erst seit etwa einem Jahr auf San Nicola.
Die Arbeit in den Steinbrüchen der Insel war mörderisch – die Aufseher nicht minder, und das hinauf bis zum „comandante della piazza forte“, dem Festungskommandanten. Sie unterlagen keiner Kontrolle, das heißt, sie konnten mit den lebenslänglich Verbannten nach Lust und Laune verfahren. Kein Hahn krähte danach, ob einer krepierte, gefoltert oder auf üble Weise massakriert wurde.
Wenn der Comandante Nachschub für die Steinbrüche brauchte, dann holte er sich den aus den Gefängnissen der Küstenstädte oder aus Foggia und San Severo. Kein Problem, da war immer was „auf Lager“, wenn nicht, dann wurde eben ein zum Tode Verurteilter „lebenslänglich“ begnadigt, was aufs gleiche hinauslief, nur mit gezielter Verzögerung.
Der Ragusaner gehörte zu den „lebenslänglich“ Begnadigten, und da war er dem Comandante außerordentlich dankbar, der ihn buchstäblich unterm Galgen weggezogen hatte. Die Henkerschlinge hatte schon über seinem Kopf gebaumelt. Na ja, diese Dankbarkeit war fünf Minuten später verflogen, als ihn die Schergen des Comandante zu der Schaluppe peitschten und er einen Vorgeschmack davon erhielt, was ihm auf San Nicola blühte.
Lebenslängliche und Gefängnispersonal waren einander in Haß zugetan, und man hätte schlicht fragen können, wer von beiden schlimmer war – die Gepeinigten oder die Peiniger. Drüben an der Küste sprach man hinter der vorgehaltenen Hand von „der Hölle auf San Nicola“. Auf der Insel selbst gab es außer den Lebenslänglichen und ihren Bewohnern nur ein paar Huren, aber diese lediglich für die letzteren. Und da war noch ein fettes Schwein von Kneipenwirt für die einzige Kneipe auf der Insel, die auch gleichzeitig Heim und Wirkungsstätte der Huren war, also eine Lasterhöhle.
Diese Huren spazierten ab und an bei den Steinbrüchen vorbei, wo Kalksandstein gewonnen und behauen wurde. Das war auch so eine perfide Idee des Comandante gewesen, weil es den Bewachern Gelegenheit bot, auf jene loszudreschen, die einen Blick riskierten. Und wer tat das nicht!
Im Grunde waren auf dieser Insel des Teufels nur Bestien versammelt. Das Gefängniskastell, das einer Festung glich, beherbergte an die einhundertzwanzig lebenslänglich Verbannte. Sie wiederum wurden von etwa sechzig Bewachern terrorisiert. Es hatte noch keinen Aufstand gegeben, und darauf war der Comandante sehr stolz. Und noch nie war einem der Verdammten die Flucht gelungen – es sei denn die Flucht ins Jenseits in Form des Selbstmordes.
Darum also starrten die Kerle in diesem Kerkerraum den Ragusaner mit offenen Mäulern an, zumal er das so dahergesagt hatte, als handele es sich um einen kleinen Ausflug oder einen Spaziergang, den er möglicherweise schon am nächsten Tag beabsichtigte.
Coltello war der erste, der die Sprache wiederfand. In seiner Stimme zitterte verhaltene Wut.
„Bist du verrückt?“ zischte er. „Weißt du, was du da redest? Ich bin seit sechs Jahren hier – und weiß es von denen, die noch länger hier waren, aber längst krepiert sind: Von dieser verdammten Insel ist noch niemand geflohen. Niemand!“
„Einmal ist immer das erste Mal“, sagte der Ragusaner kühl. „Das ist eine Binsenwahrheit. Euer Pech ist, daß ihr nicht denken könnt.“
„Ich denke Tag und Nacht daran, welche Möglichkeiten es gibt, von hier zu fliehen!“ fauchte Coltello.
„Aber eingefallen ist dir nichts“, sagte der Ragusaner spöttisch. „Keiner von euch hat das Frettchen beobachtet, das merkwürdigerweise besser im Futter als ihr alle ist. Sonst hättet ihr längst gemerkt, daß dieser Bastard klaut.“
Und der Ragusaner setzte wieder seine Beinzange an, um dem Frettchen zu demonstrieren, daß Gevatter Tod immer noch mit der Sense bereitstand. Der Ragusaner bestand aus Muskeln und Knochen, es waren eiserne Muskeln. Und er setzte sie brutal ein.
Das Frettchen lief blau an, und wieder begann das entsetzliche Gurgeln.
Als ihm die Augen aus den Höhlen quollen, lockerte der Ragusaner die Beinzange, und das Frettchen saugte pfeifend Atemluft ein.
Der Ragusaner sagte: „Von jetzt an wirst du für uns klauen, Frettchen. Aber dein mieses Leben hängt an einem seidenen Faden. Ich kann dich dem Comandante melden oder dich nachts im Schlaf überraschen und dir die Luft abdrehen. Ist das klar?“
Das Frettchen, kalten Angstschweiß auf der Stirn, nickte keuchend.
„Morgen abend“, sagte der Ragusaner, „wirst du mir aus der Schmiede etwas mitbringen, und zwar eine dreikantige Eisenfeile und einen Sperrhaken, dessen Bart in das Schlüsselloch unserer Vorhängeschlösser paßt. Du weißt doch, was ein Sperrhaken ist, oder?“
„Ja. Hab ja lange genug in der Schmiede gearbeitet.“ Das klang schon wieder pampig, und darum setzte der Ragusaner erneut die Beinzange an.
Und er sagte: „Hör genau zu, du lausige Ratte: Wenn du frech werden willst, sind deine Stunden und Minuten gezählt. Du bist unwichtig für uns, für den Comandante auch – der schaut nur grinsend zu, wenn sie deine Leiche an die Haie verfüttern. Und an deiner Stelle wird mir Zappi Feile und Sperrhaken besorgen, nicht wahr, Zappi?“
Zappi, ein Schurke, Messerstecher und Weiberheld aus Neapel, arbeitete ebenfalls in der Schmiede. Er grinste hart und erwiderte: „Klar doch, Ragusa. Dauert nur etwas länger, weil ich auf Beutelschneiderei nicht gelernt habe. Aber das kriege ich hin.“
„Ich – ich erledige das“, quetschte das Frettchen heraus. Es pfiff wieder auf dem letzten Loch, was Bari, den Vierschrötigen mit der niedrigen Stirn, in Entzücken versetzte. Er hatte noch gar nicht begriffen, auf was der Ragusaner zusteuerte. Tatsächlich hatte er das Gehirn einer Mücke. Im übrigen war er gewalttätig, aber das waren alle mehr oder weniger.
„Das wollte ich dir auch geraten haben“, sagte jetzt der Ragusaner zu dem Frettchen. „Außerdem erklärte ich, daß ich mit euch hier ausbrechen wollte. Mit euch heißt, auch mit dir. Wenn du also Feile und Sperrhaken aus der Schmiede klaust, tust du es für dich und uns. Klar?“
„Ja“, sagte das Frettchen und schielte auf das rechte Bein Ragusas, das über seinem Hals lag. „Und was ist, wenn ich dabei geschnappt werde?“
Der