Seewölfe - Piraten der Weltmeere 97. Kelly Kevin
Immerhin, dachte Ben Brighton, war er schon mal nicht in seiner Kammer, um Luana etwas anzutun. Das knochige Gesicht des selbsternannten Capitans verzerrte sich zur höhnischen Fratze. Er blieb stehen, spuckte aus und stieß Matt Davies, der ihm am nächsten lag, den Stiefel zwischen die Rippen.
„Bastardo!“ knirschte er. „Cobarde …“
„Selber Bastardo!“ kreischte Sir John aus den Wanten. Was allerdings nicht auf seinem Mist gewachsen war. Er ahmte lediglich die Art nach, wie Ed Carberry Flüche zu kontern pflegte.
Verblüfft äugte Ingarra zu dem bunten Vogel hinauf. Der Leidtragende war Matt Davies. Ihm trat der Spanier, sozusagen probeweise, noch einmal in die Rippen.
„Bastardo!“ kreischte Sir John unbeirrt. „Cobarde! Bastardo! Halt den Rand, du dreimal in Walfischkotze gebadetes Bugsprietgespenst!“
Das letzte, dachte Ben Brighton, konnte der Vogel unmöglich von Ed Carberry gehört haben. Auf der „Isabella“ mußte es ein unentdecktes Genie geben, das nur still vor sich hin fluchte. Matt Davies kicherte hingerissen, was ihm einen weiteren, diesmal brettharten Tritt einbrachte.
„Halt deine stinkenden Füße bei dir, du Sohn einer räudigen Kanalratte“, knurrte der Mann mit der Hakenprothese.
Carlos Ingarra verstand nicht genug Englisch, um die Feinheiten der Aufforderung zu begreifen.
Seine funkelnden, zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen glitten über die Gefangenen. Dann hob er die Hand, winkte seinen Leuten und stieß ein paar knappe Befehle hervor.
„Ab in die Vorpiek!“ übersetzte Ben Brighton, der die spanische Sprache genauso perfekt beherrschte wie der Seewolf.
„Dreckskerle“, flüsterte Dan. „He, Profos, wie wär’s, wenn du ihnen die Haut in Streifen …“
Weiter gelangte er nicht.
Denn im selben Augenblick begann im Großmars eine aufgeregte Stimme zu rufen, und sogar Dans Spanischkenntnisse reichten aus, um die Worte zu verstehen.
Er grinste strahlend.
„Mastspitzen achteraus“, flüsterte er. „Das muß die ‚Isabella‘ sein. Gleich kriegen die Spanier Zunder!“
„Abwarten“, sagte Ben Brighton nachdenklich.
„Ho!“ grollte Carberry. „Was heißt hier abwarten, was, wie? Glaubst du vielleicht, dieser nachgemachte Pißpott-Admiral kann mit seinem verlotterten Waschzuber die alte ‚Isabella‘ abhängen?“
Bens Grinsen wirkte ziemlich freudlos. Er sah den Profos an und zuckte mit den Schultern.
„Das nicht, Ed“, sagte er trocken. „Aber wenn du deine Klüsen aufreißt und dir den nachgemachten Pißpott-Admiral etwas genauer anschaust, wirst du schon kapieren, was ich meine.“
Carberry schluckte.
Er vergaß das Fluchen. Denn ein Blick in Carlos Ingarras Richtung ließ ihn sofort begreifen, welche Teufelei der selbsternannte Kapitän der „Maria Mercedes“ ausheckte.
Ingarras Gesten sprachen Bände.
Das böse Lächeln auf seinem knochigen Gesicht paßte dazu. Nur für ein paar Sekunden hatte ihn Schrekken gepackt, als er sah, wie schnell die „Isabella“ aufsegelte – jetzt sprühten seine dunklen Augen in einem Funkeln teuflischen Triumphs.
Er hatte fünf Gefangene an Bord.
Fünf Geiseln, deren Leben er als Faustpfand benutzen konnte.
Carlos Ingarra starrte der „Isabella“ entgegen, und seine Mundwinkel zogen sich verächtlich nach unten.
„Mich laust der Affe!“ flüsterte der sehnige Gary Andrews im Großmars.
Und dann schrie er, schrie mit einer Stimme, die vor jäher Erregung fast überkippte: „Deck ho! Die Mistböcke von verlausten Dons haben ’ne Schweinerei vor! Die binden jemanden an die achtere Drehbasse!“
Hasard hob mit einem Ruck den Kopf.
Eine halbe Sekunde starrte er zum Ausguck hoch, als traue er seinen Ohren nicht, dann flankte er über die Schmuckbalustrade des Achterkastells. Die Planken dröhnten, als er aufsetzte. Mit wenigen Schritten erreichte er den Großmast, enterte an den Webleinen der Wanten hoch und schwang sich über die Segeltuchverkleidung der Plattform.
„Verdammt!“ flüsterte Gary. „Diese Teufel! Diese Schneckenfresser! Diese dreckigen, gemeinen …“
Hasard hörte nicht zu.
Er hatte das Spektiv auseinandergezogen, setzte es ans Auge, und was er sah, ließ ihn unter der Sonnenbräune weiß werden.
Fast in Kiellinie vor ihnen segelte die „Maria Mercedes“ mit halbem Wind über Backbordbug nach Norden.
Die Rohre der beiden achteren Drehbassen zeigten auf die „Isabella“,
Und vor diesen Rohren …
Hasard hielt den Atem an.
Deutlich konnte er durch das Spektiv die schlanke Gestalt erkennen, die zwei Spanier vor das Rohr der Backbord-Drehbasse gezerrt hatten. Blut verschmierte das Gesicht unter dem schwarzen Haar, aber es war unverkennbar das Gesicht von Bill, dem Schiffsjungen.
Seine Hände waren auf den Rükken gefesselt. Jetzt wurden sie mit einem eisernen Rohr verbunden, und die Spanier schlangen hastig ein zweites Tau um Bills Leib, das sie mit den Lafetten des Geschützes verbanden. Auch die Füße hatten sie dem Jungen verschnürt.
Er konnte sich nicht regen, wurde unverrückbar gegen die Mündung des eisernen Rohrs gepreßt, und wenn jetzt jemand die Drehbasse abfeuerte, würde die Kugel den Jungen zerreißen.
Hasards Zähne knirschten aufeinander.
Er schwenkte das Spektiv und starrte zu der Drehbasse an der Steuerbordseite hinüber. Dort mühten sich drei Spanier damit ab, den gefesselten Profos zu bändigen.
Hasard sah gerade noch, wie einer der Kerle die Faust gegen Ed Carberrys Rammkinn schmetterte. Selbst für den eisernen Profos war das zuviel. Seine Muskeln erschlafften, und die Spanier hatten keine Mühe mehr, ihn ebenfalls vor das Rohr des Geschützes zu binden.
Die „Maria Mercedes“ luvte an.
Die Rahen wurden dichter geholt, die Galeone zeigte der „Isabella“ die Steuerbordseite. Der Seewolf wußte, daß sie es nur aus einem einzigen Grund tat: damit ihre Gegner einen Blick auf die Drehbassen am Bug werfen konnten.
Auch dort hingen zwei Männer hilflos vor den schwenkbaren Geschützrohren.
Ben Brighton und Dan O’Flynn.
Einzig Matt Davies war verschont geblieben. Oder nein: dieser Teufel von Capitan dachte natürlich nicht daran, ihn zu schonen.
Matt Davies stand gefesselt am Steuerbord-Schanzkleid der Kuhl. Der Lauf einer schußbereiten Muskete preßte sich in seinen Nacken. Er würde zweifellos als erster sterben, wenn die Seewölfe nicht taten, was Carlos Ingarra von ihnen erwartete.
Was er erwartete, lag klar auf der Hand.
Hasard preßte die Lippen zusammen. Sein Gesicht glich einer Maske aus Stein. Aber er zögerte keine Sekunde und gab seine Befehle noch vom Großmars aus. Er dachte nicht daran, das Leben auch nur eines einzigen von den fünf Männern dort drüben aufs Spiel zu setzen.
„Klar zum Halsen!“ peitschte seine Stimme. „An die Brassen! Auf das Ruder!“
In einem blitzschnellen Manöver fiel die „Isabella“ ab und ging mit dem Heck durch den Wind.
Auch die „Maria Mercedes“ fiel wieder ab und rauschte mit halbem Wind nordwärts. Noch während Hasard abenterte, konnte er sehen, wie auf der Galeone der Lauf der Muskete von Matt Davies’ Genick zurückgezogen wurde. Der Meuterer-Kapitän hatte erreicht, was er wollte. Er würde seine Gefangenen vorerst am Leben lassen.
Vorerst!