Seewölfe - Piraten der Weltmeere 192. Kelly Kevin
da ihn der Treffer mit wohlerwogener Absicht aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, schlug die Kugel lediglich ein paar Funken aus dem Felsen.
Smoky blickte fassungslos auf seinen gefällten Gegner, aber das konnte Hilo Palmeiro schon nicht mehr sehen.
2.
Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, sah der Pinasse mit den leeren Wasserfässern entgegen, als der Schuß fiel.
Luke Morgan, Sam Roscill und Matt Davies, der Mann mit der Haken-Hand, hatten eine weitere Quelle an der Westseite der Insel entdeckt. Eine Quelle, die passenderweise in Kaskaden über Felsvorsprünge floß, so daß man die Fässer nur unter das fallende Wasser stellen brauchte, um sie zu füllen. Am Strand waren der rothaarige Schiffszimmermann Ferris Tucker, der blonde Stenmark, Dan O’Flynn und der Moses Bill damit beschäftigt, aus jungen Palmenstämmchen und Lianen Tragegestelle zu fertigen. Arwenack, der Schimpanse, hüpfte um sie herum, keckerte aufgeregt und trommelte sich auf die behaarte Brust, als wolle er Besitzansprüche auf die Insel anmelden.
Der Schuß ließ nicht nur die Männer, sondern auch den Affen erstarren.
Philip Hasard Killigrew wirbelte herum, die eisblauen Augen zusammengekniffen. Der Schuß war irgendwo im Dickicht auf der Anhöhe gefallen, die den Mittelpunkt der Insel bildete. Kein Schrei folgte, kein Kampflärm – nur das eigentümlich hohe, schrille Singen, das entsteht, wenn eine Kugel von Stein oder Metall abprallt.
Im nächsten Augenblick fegte ein flatterndes rotes Etwas über die Palmwipfel, entpuppte sich als Sir John und ließ sich zielgenau auf der breiten Schulter Edwin Carberrys nieder, der gerade mit einem Sprung von der Pinasse an Land setzte.
„Affenarsch und, Rübenschwein!“ krächzte der Vogel. „Chinesisches Hackfleisch und Lochstickerei!“
„Hä?“ fragte der Profos verdutzt.
„Palmeiro!“ kreischte der Papagei. „Hilo Palmeiro! Hipp-hipp-hurra!“
Ed Carberry kratzte ratlos sein zernarbtes Rammkinn.
Der Seewolf spähte zu der Anhöhe hinauf und versuchte angestrengt, eine gedankliche Verbindung zwischen einem Pistolenschuß, chinesischem Hackfleisch, Lochstickerei und einem fremden Namen herzustellen. Es gelang ihm nicht. Erbittert knirschte er mit den Zähnen, zog die sächsische Reiterpistole aus dem Gürtel und marschierte quer über den Strand – mit dem schnellen, federnden Gang eines kampfbereiten Panthers.
Die anderen Männer schlossen sich an.
In der schwülen, schattigen Wildnis jenseits des Palmengürtels stießen sie auf Batuti, der den Schuß ebenfalls gehört hatte.
„Kleine Seewölfchen da oben!“ sprudelte der schwarze Herkules aus Gambia hervor, und Hasard hatte das Gefühl, als streiche ein Eiszapfen über seinen Rücken.
Drei Minuten später stellte er fest, daß er sich umsonst sorgte.
Es raschelte im Gestrüpp. Zweige knackten, jemand ächzte und rief verschiedene Heilige an – auf Portugiesisch. Die Reaktion erfolgte dreistimmig und klang nicht so, als seien die Besitzer der Stimmen zu Schaden gekommen.
„Beweg deine müden Knochen, du Laus“, knurrte Smoky, wobei er großzügig übersah, daß Läuse keine Knochen haben.
„Hopp-hopp, du Rübenschwein!“ kommandierte Hasard junior.
„Schneller, oder wir ziehen dir die Haut in Streifen von deinem verdammten Affenarsch!“ ließ sich Philip junior vernehmen.
Der Seewolf blieb stehen und schoß Ed Carberry einen vernichtenden Blick zu. Von ihm stammten nämlich die phantasievollen Sprüche, die ihm die Zwillinge noch eifriger als der Papagei ablauschten. Der Profos schluckte. Entgeistert starrte er dorthin, wo sich jetzt die Büsche teilten.
Als erster erschien der Portugiese, der die Heiligen angerufen hatte.
Mit gutem Grund. Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt, von einer Platzwunde am Kopf rann Blut über sein Gesicht. Hinter ihm marschierte Smoky, sichtlich wütend, und knuffte ihn ab und zu unsanft in die Rippen. Die Zwillinge bildeten den Schluß, sahen sehr vergnügt aus und überboten sich gegenseitig darin, den Gefesselten mit den erlesensten Greueltaten der Marke Carberry zu bedrohen.
Der Portugiese, der nicht wissen konnte, ob Hautabziehen, Kielholen oder Tätowieren mittels Marlspieker tatsächlich zu den Gewohnheiten seiner Gegner gehörten, war gelblich-fahl wie altes Pergament.
Jetzt prallte er zurück, als sein Blick auf die Männer vor ihm fiel. Dabei hatte er das Pech, Smoky auf den Fuß zu treten. Und der Decksälteste, der den Seewolf und die anderen noch nicht sehen konnte, revanchierte sich mit einem deftigen Tritt in den Achtersteven.
Der Portugiese jaulte auf, segelte vorwärts und fiel Philip Hasard Killigrew in die Arme.
Der Seewolf lüftete ihn kurz an und stellte ihn auf die Füße. Dabei hielt er ihn am Kragen fest, weil der Bursche sichtlich weiche Knie hatte.
„Ach du liebe Zeit“, brummte Edwin Carberry nach einem prüfenden Blick auf das Jammerbündel.
„Wir ihn gefangengenommen“, verkündete Hasard junior.
„Mit Stein“, bekräftigte Philip junior. „Weil er Smoky mit Lochstickerei verzieren wollte.“
„Stimmt“, sagte der Decksälteste.
Und Edwin Carberry, auf dessen Schulter immer noch Sir John hockte, ging die rätselhafte Geschichte nun endgültig über die Hutschnur.
„Was, zum Teufel, ist Lochstickerei?“ brüllte er in einem Ton, der sekundenlang sogar das schrille Konzert der Vögel im Dickicht verstummen ließ.
Smoky erläuterte es.
Er wußte zwar auch nicht, was Lochstickerei war, aber er wußte, was sein Gegner gemeint hatte: das Stanzen von Löchern in den menschlichen Körper mittels Schußwaffe. Das Rätsel um Sir Johns „chinesisches Hackfleisch“ klärte sich ebenfalls. Währenddessen schien der Portugiese immer mehr in sich zusammenzukriechen. Am Ende schlotterte er an allen Gliedern – zumal Sir John immer wieder etwas von einem „Rübenschwein“ dazwischenkrähte, dem gleich an der Rah der Hals langgezogen würde.
„Sie heißen Hilo Palmeiro?“ erkundigte sich Hasard auf spanisch.
Der Portugiese schluckte und starrte den Seewolf an, als habe er einen Hellseher vor sich.
„J-ja“, stotterte er. „Ich schwöre bei allen Heiligen, daß ich niemandem etwas tun wollte, ich …“
„Und die Lochstickerei?“ erinnerte der Seewolf trocken.
„Ich wollte nicht schießen. Die Pistole ist losgegangen, als ich den Stein an den Kopf kriegte. Ich bin schiffbrüchig. Von der ‚Dona Felipa‘. Ich wurde im Sturm über Bord gespült und hier angeschwemmt, schon vor einer Woche. Ich mußte doch vorsichtig sein! Ich wollte doch nur wissen, ob ich Freund oder Feind vor mir hatte!“ Er stockte und rang mühsam um Fassung. „Wer sind Sie?“
„Philip Hasard Killigrew. Kapitän der ‚Isabella VIII‘.“
Hilo Palmeiro wurde noch um einen Schein blasser.
„Der Seewolf!“ stöhnte er.
„So nennt man mich, ja.“
„O Madonna! Der Himmel stehe mir bei! Heiliger Christophorus, Schutzpatron aller Seefahrer …“
„Dank lieber dem heiligen Sebastian“, unterbrach ihn Hasard sanft.
„Dem – dem heiligen Sebastian?“
„Das ist der Schutzpatron aller Schützen“, sagte Hasard trocken. „Er hat dich davor bewahrt, meinen Decksältesten zu treffen, und das ist dein Glück. Wir sind Engländer, Amigo. Bei uns ist es Brauch, Schiffbrüchigen zu helfen – ohne Rücksicht auf die Nationalität.“
Hilo Palmeiros Blick huschte von