Seewölfe - Piraten der Weltmeere 195. Roy Palmer
Festlandmasse vor uns haben, die sich riesengroß von hier bis über den südlichen Pol spannt.“
„Sondern?“
„Der rätselhafte Kontinent ist kleiner als beispielsweise die Neue Welt. Vielleicht ist er noch nicht mal so groß wie Europa.“ Hasard zeichnete die imaginäre Küste des Erdteils weiter, so wie er sie sich vorstellte. Auf der Karte entstand die Andeutung eines Ovals, das losgelöst von allen anderen Ländern südöstlich von Kalimantan, Java und Sumatra in der Südsee schwamm.
Ben sagte: „Aber – das ist ja nicht zu fassen.“
„Doch. Es ist eine logische, nüchterne Erklärung. Und das Ende eines Traumes.“
„Wie kannst du so sicher sein?“ fragte Ben verwirrt. „Wir haben doch keine Beweise, daß es so ist, wie du sagst.“
„Ich habe die Muschelkarten der Polynesier, die etwas anderes aussagen als das Logbuch des Satans“, erwiderte der Seewolf. „Und auch ich habe meine Theorie von den Dingen entwickelt – wie Don Mariano José de Larra und alle anderen Abenteurer, die bis in diese Gefilde vorgedrungen sind.“
Ben räusperte sich, dann sagte er: „Kann ich mal den Stock haben?“ Er nahm den Ladestock aus der Hand seines Kapitäns entgegen, wies damit auf den verlorenen Punkt, an dem sie sich nach Hasards Positionsberechnungen zur Zeit befanden – und schnitt eine entgeisterte Grimasse. „Keine zusammenhängende Kontinentalmasse im Süden also. Ja, wohin segeln wir dann? Hat unser Unternehmen überhaupt noch einen Sinn?“
„Ich hoffe nur darauf, daß der Wind bald dreht.“
„Und? Segeln wir dann nach Westen?“
„Ja. Wenn nicht, haben wir eines schönen Tages vielleicht wieder die paradiesischen Inseln Rarotonga, Tutuila oder Tahiti vor uns“, sagte Hasard mit galligem Humor. „Aber, so friedlich das Leben dort auch verläuft, ich schätze, daß keiner von uns gesteigerten Wert darauf legt, noch vor Ablauf dieses Jahres 1590 wieder dorthin zurückzukehren.“
„Das ist mal sicher“, brummte Ben. Seine Hand hielt immer noch den Ladestock der Muskete, und die Spitze des Stocks wies nach wie vor auf die Position der „Isabella“. „Herrgott noch mal, gibt es denn hier wirklich kein Land?“
„Kein Festland, Ben, das habe ich dir jetzt oft genug gesagt.“
„Aye, Sir“, murmelte der biedere, stämmige Mann – und war doch nicht vollends überzeugt. „Aber dann laß uns wenigstens eine mickrige Insel finden, in deren Bucht wir verholen können, ehe es richtig losstürmt.“
„Hoffentlich wird dein Wunsch erhört“, sagte der Seewolf.
Wenig später, als sie wieder an Deck standen, ließ ein heller Ruf aus dem Großmars Ben Brighton zu seinem Kapitän herumfahren und siegesgewiß grinsen.
„Deck!“ schrie Bill, der Moses, hoch über ihren Köpfen. „Land Backbord voraus! Land ho, Sir, im Osten! Es ist ein dicker, breiter Streifen!“
„Drück dich gefälligst deutlicher aus, du einarmiger Kakerlak!“ brüllte der Profos zum Großmars hoch. „Wie oft soll ich dir das noch sagen, du Stint? Muß ich dir das erst noch wieder beibiegen, wie man ordentlich meldet, was, wie?“
„Sir!“ rief Bill verzweifelt. „Ich weiß nicht, wie ich mich besser ausdrücken soll.“
Hasard hob den Kopf und legte die Hände als Schalltrichter an den Mund. „Unser Profos will wissen, ob es eine Insel oder Festland ist, Bill! Nun?“
„Das kann ich noch nicht erkennen! Wie es sich ausdehnt, könnte es Festland sein, aber …“
„Holla!“ brüllte Ed Carberry. „Da haben wir also wieder den neuen Kontinent erreicht, Freunde! Na, Leute, was meint ihr, was gibt es diesmal für Überraschungen? Kriegen wir vielleicht fünfbeinige Schildkröten zu sehen? Oder Wasservögel mit Leopardenfell? Oder glotzäugige Wilde mit Hakenprothesen?
Was, Matt Davies? Was meinst du?“
„Ich finde das nicht witzig“, antwortete Matt Davies, der Mann mit der Eisenhakenhand.
„Kurs Osten!“ befahl der Seewolf. „Wir halten auf das Land zu!“
„Abfallen!“ dröhnte Carberrys mächtiges Organ über Deck. „Habt ihr Schlick in den Ohren, ihr Bordratten? Unsere alte Lady soll mit dem Achtern zum Wind, ohne daß sie sich dabei die Beine bricht, kapiert? Wenn ich das schon sehe, wie lahmfüßig ihr euch … He, Mister Bowie, ich will dich springen sehen! Und dich auch, Mister Grey! Reißen hier jetzt neue Sitten ein, oder was ist los? Zur Hölle, wo stecken die beiden Bengel? Wo, zum Teufel, haben sich die Rübenschweinchen verkrochen?“
Das Kombüsenschott flog auf, und Philip und Hasard, die Söhne des Seewolfes, streckten die Köpfe hervor. „Hier, Sir! Du selbst hast uns doch zum Kombüsendienst eingeteilt, Mister Carberry!“
Zum Glück gingen ihre Worte halb im Heulen des Windes unter, und der Profos wischte jede Bemerkung ohnehin durch eine herrische Geste fort.
„Rollt an!“ brüllte er. „Ihr werdet jetzt gebraucht, ihr Satansbraten, und ich schwöre euch, ich zieh euch die Haut in Streifen ab, wenn ihr nicht spurt!“
„Aye, Sir!“ riefen die Jungen.
„Kurs Osten liegt an, Sir!“ schrie Pete Ballie, der Rudergänger.
„Gut“, sagte der Seewolf, der mit Ben Brighton das Quarterdeck geentert hatte. „Dann wollen wir uns mal nach einer geeigneten Bucht umsehen.“ Er hatte sein Spektiv auseinandergezogen und hob es an, um das näher rückende Land in Augenschein zu nehmen.
„Mein Stoßgebet ist also doch erhört worden“, sagte Ben. „Und nun, ich will dir nicht widersprechen, aber – könnte es nicht doch möglich sein, daß wir erneut Festland vor uns haben?“
„Ich bin nicht bereit, über diese Frage Wetten abzuschließen“, sagte Hasard. Seine Miene hatte sich ein wenig verhärtet.
Ben Brighton zog es vor, vorläufig zu schweigen.
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