Seewölfe - Piraten der Weltmeere 473. Roy Palmer
des Geleits hoffte, da konnte er lange warten. Der Seewolf und seine Kameraden hatten die Kriegsgaleonen eine nach der anderen versenkt. Selbst das schwer armierte Flaggschiff, ein ausgesprochener Feuerspucker, war kein Gegner für sie gewesen.
Bei dem Dicken setzte nun das ein, was man mit dem Verfall der Persönlichkeit bezeichnet. Ohne den Prunk, das Wohlleben – samt der kandierten Früchte, die er so gern verschlang –, ohne das Auskosten seiner absoluten Macht war Don Antonio gewissermaßen nackt. Und die Vorpiek war wahrhaftig nicht dazu angetan, seine Stimmung zu heben. Don Antonio keuchte und winselte und kroch in seinem Gefängnis herum.
„Gnade!“ stöhnte er. „Erbarmen!“
Zu kraß war der Wechsel von seiner bisherigen üppigen Umgebung zur Kargheit des jetzigen Raumes, wo er auf den harten Planken schlafen mußte. Und schlafen – wer konnte überhaupt noch schlafen? Es war ein Dahindämmern, wenn er müde auf das Holz sank, doch immer wieder schreckte er vor Entsetzen und Grauen hoch und glaubte, seine Henker nahen zu hören.
Hatte Don Antonio sich zunächst geweigert, von der Bordverpflegung zu essen, so trieb ihn jetzt der Hunger, zuzulangen. Vorher hatte er an dem „Fraß“ herumgemäkelt. War das überhaupt Essen? Pfui – eine Zumutung! Doch inzwischen nagte der Hunger an ihm, und verbissen schaufelte er die Nahrung mit den Händen in sich hinein.
Der Essensnapf war leer. Nachschub gab es vorläufig nicht. Don Antonio knurrte schon wieder der Magen. Je mehr Hunger er hatte, desto mehr wuchsen seine Verzweiflung und die Panik.
„Hallo!“ stieß er keuchend hervor. „Du da draußen!“
Eine Antwort erhielt er nicht. Hasard hatte ausdrücklich angeordnet, den Dicken nicht anzuhören. Matt grinste und hüllte sich in Schweigen.
„Ich weiß, daß du da bist!“ stöhnte Don Antonio de Quintanilla.
Natürlich weißt du’s, dachte Matt verächtlich. Glaubst du vielleicht, wir lassen dich unbewacht, du Ratte?
„Bitte – bitte“, stammelte Don Antonio. „So sag doch was! Nur ein Wort!“
Matt hätte am liebsten ausgespuckt, aber er wollte die Planken hier unten nicht verunreinigen. Ja, hatte der Fettsack denn überhaupt keinen Stolz? Schmor du nur, dachte Matt. Je länger du schmorst, desto besser ist es. Und wenn der Rauch zu den Ritzen ’rausdringt, blase ich ihn höchstens ein bißchen weg.
„Ich sterbe!“ wimmerte Don Antonio. „Ich kann nicht mehr! Ihr könnt mich hier doch nicht verrecken lassen! Was seid ihr denn für Menschen?“
Was bist du für ein Mensch? hätte Matt ihn am liebsten gefragt. Aber er hielt sich zurück. Wenn Hasard einen Befehl gab, dann wurde der auch strikt befolgt. Und niemand hatte etwas dagegen einzuwenden, wenn der Dicke wirklich seinen letzten Atemzug tat. Wer hatte sich denn mit der Black Queen verbündet und zum großen Angriff auf die Schlangeninsel geblasen? Don Antonio de Quintanilla. Der Hund hatte nichts anderes als den Tod verdient.
Auch bei den Posten, die vor Matt Davies am Vorpiek-Schott Wache gegangen waren, hatte der Dicke es schon versucht. Jeden glaubte er durch sein Gejammer erweichen und in Gespräche ziehen zu können. Doch er stieß auf eisiges Schweigen. Keiner hatte Mitleid mit ihm.
Es ist das Ende, dachte Don Antonio. Dann wurde ihm übel. Alles drehte sich um ihn herum, und er brach am Schott zusammen.
Als Don Antonio de Quintanilla das Bewußtsein wiedererlangte, lag er in der Öffnung des Schotts und blickte aus hervorquellenden Augen zu dem Kerl mit der Eisenhakenprothese hoch, der wie der Teufel in Person zu ihm hinuntergrinste.
„Aufstehen, Dicker“, sagte Matt Davies. „Zeit zum Luftschnappen.“
Luftschnappen? Richtig – nichts brauchte Don Antonio jetzt dringender als ein wenig frische Luft. Er war ja besinnungslos geworden, vor Schwäche, Erschöpfung und Übelkeit. Ob die Ursache der Hunger oder der Mangel an Luft war, war ihm nicht ganz klar. Vielleicht auch beides. Auf jeden Fall aber war der Spaziergang, den er jetzt an Oberdeck unternehmen durfte, ein Lichtblick in seinem Dasein als Gefangener.
Mühsam rappelte sich Don Antonio auf. Matt Davies traf nicht die geringsten Anstalten, ihm irgendwie behilflich zu sein.
Don Antonio wankte ein wenig und mußte sich am Schott festhalten. Das Schott knarrte in seinen eisernen Angeln. Fast sah es aus, als würden die Angeln unter dem enormen Gewicht des Gouverneurs nachgeben. Doch sie hielten stand.
Hündisch lächelte der Dicke Matt Davies zu.
„Vielen Dank“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Das ist wirklich sehr nett. Oh, ich weiß diese Güte zu schätzen.“
Matt erwiderte nichts. Der fette Kerl erregte seinen Widerwillen und Ekel. Seine Unterwürfigkeit und Stiefelleckerei diente dem Zweck, den Männern der „Isabella“ Sand in die Augen zu streuen. Sobald sich auch nur die geringste Möglichkeit dazu ergab, würde er erneut einen Bestechungsversuch unternehmen.
Bei Big Old Shane und Smoky hatte er gleich nach seiner Gefangennahme bereits angesetzt. So war bekanntgeworden, daß er auf Kuba ein Schatzversteck hatte. Don Antonio hatte sich eingebildet, Shane und Smoky würden auf sein Angebot eingehen. Er hatte sich schwer getäuscht. Ins Kreuzverhör genommen hatten ihn die Arwenacks, und weil er den genauen Platz des Verstecks nicht verraten wollte, ließen sie ihn in der Vorpiek schmoren.
Bei aller Angst, die er durchstand, war Don Antonio de Quintanilla jedoch eins nicht begreiflich. Warum folterten ihn diese Kerle nicht? Er selbst hätte jeden Hundesohn, den er im Kerker seiner Residenz in Havanna festhielt, durch das peinliche Verhör dazu gebracht, ihm den Fundort etwaiger Reichtümer preiszugeben. Der Gouverneur hatte sich stets gerühmt – auch seinem Nachfolger de Escobedo gegenüber –, selbst die hartnäckigsten Bastarde zum Sprechen zu bringen.
Ganz anders gingen diese „Piraten“ hier vor. Statt ihn mit glühenden Eisen zu zwicken oder kielzuholen, steckten sie ihn in die Vorpiek. Ihr Schweigen verdoppelte die seelische Qual. Don Antonio konnte mit keinem sprechen und war seinen peinigenden Ängsten überlassen. Er begriff jetzt, wie sie ihn zu zermürben gedachten.
Eisiges Schweigen begegnete dem Dicken auch, wenn er zum Luftschnappen an Deck ausgeführt wurde. Matt Davies dirigierte den Gefangenen vor sich her. Don Antonio schleppte sich den Schiffsgang entlang und stieß sich am Niedergang das Knie. Er wimmerte und blickte sich mitleidheischend nach Matt um. Matt äußerte nichts.
Don Antonio kletterte den Niedergang hoch. Einmal rutschte er fast aus. Er überlegte sich auch, was geschehen würde, wenn er sich auf den Mann mit der Hakenhand stürzte, der ja jetzt unter ihm war. Doch er konnte es sich ausmalen – und der Gedanke allein ließ ihn schaudern. Dieser Kerl würde nicht zögern, ihm den spitzen, scharfgeschliffenen Eisenhaken in den Allerwertesten zu rammen. Gräßlich! Don Antonio zitterte wieder, und der kalte Schweiß lief ihm über das Gesicht.
An Oberdeck beachtete ihn kein Mensch. Er, Don Antonio de Quintanilla, schien gewissermaßen Luft für die „Galgenstricke“ zu sein. Keiner drehte sich nach ihm um, keiner warf ihm auch nur einen Blick zu. Niemand sprach ein Wort.
Tatsächlich hatten die Männer der „Isabella“ für diesen feisten Kapaun nur Verachtung übrig. Selbst Higgy, der Ire, der erst kurze Zeit an Bord war, empfand Abscheu. Mac Pellew hatte ihm erzählt, welche Schandtaten und Gemeinheiten auf das Konto des Dicken gingen. Daß sich Don Antonio in Havanna nicht gescheut hatte, eine Frau töten zu lassen und die Schuld dafür Don Juan de Alcazar in die Schuhe zu schieben, war der Gipfel. Higgy hätte dem Dicken am liebsten ein paar Maulschellen verpaßt. Aber er hielt sich zurück, wie auch die anderen auf Distanz blieben. Hasards Order war klar und deutlich. Kein Kontakt zu dem Gefangenen! Dabei blieb es.
Don Antonio suchte verzweifelt nach einer Chance. Was sollte er tun? Er watschelte über die Kuhl. Seine Augen huschten hin und her. Ins Wasser springen? Zum Ufer schwimmen? Sich an Land verstecken?
Wäre es Abend gewesen, hätte er vielleicht die Aussicht gehabt, sich seinen Verfolgern zu entziehen. In der Dunkelheit hätten sie ihn schwerlich gleich wiedergefunden. Doch es war Vormittag. Wenn er den Hakenkerl