Seewölfe - Piraten der Weltmeere 410. Roy Palmer
ist nicht auszuschließen, daß sich jemand versucht fühlt, aus diesem Wissen Kapital zu schlagen, ganz gleich, wer“, sagte Hasard. „Das hat ja bereits die Black Queen getan.“
„Was aus der wohl geworden ist“, sagte Ben.
„Ich hoffe, daß sie an der Beulenpest und den pechschwarzen Blattern eingegangen ist“, sagte Old O’Flynn. „Aber keiner hat eine Ahnung, ob sie wirklich tot ist oder zäh wie eine Ratte noch einmal überlebt hat. Don Juan hat ihren Kahn zwar versenkt, aber sie braucht nicht unbedingt abgesoffen zu sein. Vielleicht spucken die Haie sie auch wieder aus, wegen des vielen Giftes, das sie im Leib hat.“
„Wir können über ihr Schicksal nur Mutmaßungen anstellen“, sagte der Seewolf. „Die Ungewißheit bleibt, aber sie hat uns oft genug böse Überraschungen bereitet. Auch sie und Caligula gehören mithin zu dem Kreis der Gegner, mit denen wir ständig rechnen müssen. Die Existenz der Schlangen-Insel ist weiterhin gefährdet. Wir müssen uns darauf einstellen.“
„Ja“, sagte Ben. „Das Gefühl des Triumphes darf uns nicht dazu verleiten, jetzt leichtsinnig zu werden.“
„Übrigens, ich frage mich dauernd, was aus den beiden letzten spanischen Galeonen geworden sein mag“, sagte der Alte. „Nun, sie werden wohl im Sturm gesunken sein. Angeschlagen, wie sie waren, haben sie ihn nicht überstanden.“
„Cubera dürfte tot sein“, sagte Hasard. „Davon bin ich überzeugt. Aber wenn es einen Mann auf seiten des Feindes gab, für den ich Hochachtung empfinde, dann war er es. Er hätte sich zurückgezogen, wenn nicht die Verstärkung eingetroffen wäre.“
„Das stimmt“, pflichtete Old O’Flynn ihm bei. „Und doch hat ihn nichts vor dem Heldentod bewahrt. Beim Donner, dieser de Vallejo war wirklich wahnsinnig. Größenwahnsinnig!“
Der Wikinger hatte Don Gonzalo de Vallejo, den Generalkapitän und selbsternannten Kommandanten des Gesamtverbandes, in einem kurzen Duell getötet, nachdem dieser von seinen eigenen Leuten abgewiesen worden war. Hasard und die Männer der „San Donato“ sowie Old O’Flynn und dessen Crew hatten es von den anderen erfahren, als sie – buchstäblich im letzten Augenblick vor dem Losbrechen des Hurrikans – mit ihren Schiffen in die große Bucht der Schlangen-Insel eingelaufen waren.
Hasard, Ben und Old O’Flynn schnitten versonnene Mienen. Noch einmal dachten sie an alle Episoden des Kampfes zurück. Dann räusperte sich der Alte und füllte noch einmal die Humpen.
„Noch was fällt mir ein“, sagte er. „Wir müssen Arne, Jörgen und Jussuf über alles unterrichten.“
„Ich habe schon eine Botschaft abgefaßt“, sagte der Seewolf. „Nils übersetzt sie ins Deutsche. Wir schicken Achmed damit los.“
„Da wird seine Taubendame aber traurig sein“, sagte Old O’Flynn.
„Sie heißt Fatima.“
„Zur Hölle, das lerne ich nie.“
„Das spielt keine Rolle“, sagte der Seewolf lächelnd. „Die Hauptsache ist, daß unser Informations-System nach wie vor funktioniert – und daß Arne und Jörgen inzwischen nach Havanna zurückgekehrt sind. Ich habe nämlich noch was anderes vor. Ich will, daß die ‚Wappen von Kolberg‘ nach Havanna segelt – so schnell wie möglich.“
Zur selben Stunde trieb eine herrenlose Schaluppe im westlichen Bereich der Caicos-Passage. Ihr Ruder war zerbrochen, das Rigg zerfetzt und das Schanzkleid beschädigt. Kein Mensch schien sich mehr an Bord zu befinden – und doch war sie nicht vollends verlassen. Unter Deck lag ein Mädchen in einer Koje und wälzte sich unruhig hin und her.
„Papa“, murmelte sie immer wieder. „Papa, das ist sie – die Sintflut. Gott – straft uns. Fliegendes Wasser. Heilige Mutter Gottes …“
Sie war Spanierin, blutjung, gertenschlank und bildhübsch. Sie konnte höchstens zwanzig Jahre alt sein. Sie hatte eine Familie gehabt, Vater und Bruder. An Bord der Schaluppe hatten sich außer ihnen noch einige Männer mehr befunden. Aber die See hatte ihre Opfer verlangt.
Der Hurrikan war erbarmungslos. Er packte ganze Schiffe und zerstörte sie, und er riß ihre Mannschaften in die Tiefe, auf Nimmerwiedersehen. Er hatte die Männer der Schaluppe vom Oberdeck gefegt wie winzige, hilflose Insekten, und doch war ein Wunder geschehen. Die Schaluppe war nicht von den orgelnden, entfesselten Naturgewalten verschlungen worden.
Ein Zufall, ein Fall von Gnade und Vorsehung – und doch war dies schlimmer als der Tod. Das Mädchen vermochte sich an kaum etwas zu erinnern. Sie wußte nicht mehr, wie sie hieß und woher sie kam, und sie fühlte sich in die Gedankenwelt der ersten Jahre ihrer Kindheit zurückversetzt.
Sie hatte ihren Vater und ihren Bruder schreiend in den schwarzen Fluten verschwinden sehen, ehe sie sich mit letzter Kraft unter Deck hatte verkriechen können. Die Tragödie hatte ihren Geist verwirrt.
„Papa, Papa“, stammelte sie, und wieder warf sie sich in der Koje hin und her. „Papa, die Sturmhexen!“
Die Angst und das Alleinsein brachten immer neue, dumpfe und deprimierende Fragen hervor. Das Mädchen lag in einem von Alpträumen durchwebten Zustand, etwas schien mit großem Druck auf ihrer Brust zu lasten. Ihr Gesicht und ihr Körper waren schweißbedeckt, hin und wieder durchlief sie ein heftiges Zucken. Manchmal schlug sie mit den Fäusten gegen die Bordwand, dann wieder schluchzte sie und verhielt sich nahezu reglos.
Die Dünung entführte die Schaluppe, eine Drift setzte sie gefangen und ließ sie nach Südwesten abtreiben. Ein hölzerner Sarg schien sich um das Mädchen zu schließen. Sie war ihrem Schicksal ausgeliefert. Sie würde verhungern oder verdursten oder an Erschöpfung oder Verzweiflung sterben. Es gab keine Rettung für sie, denn sie selbst würde nichts unternehmen, um ihre Lage in irgendeiner Weise zu verbessern. Dazu war sie nicht fähig, gleichzeitig begriff sie nicht, daß ihr Ende schon sehr nah sein konnte.
Auch über die Insel Great Inagua war in dieser Nacht vom 29. auf den 30. Juli der Hurrikan hinweggefegt. Er hatte mit erbarmungsloser Wildheit gewütet. Er hatte Palmen und Mangroven wie lächerliche Halme geknickt und entwurzelt, den Urwald verheert und den Sand des Strandes in gewaltigen Fontänen aufgewirbelt. Er hatte Büsche durch die Luft entführt und die Tiere des Dschungels in ihre Höhlen, Erdlöcher und Nester getrieben, an denen er wiederum mit heulendem Zorn gezerrt hatte.
Wie die Tiere hatten sich auch die Menschen verkrochen und um ihr Leben gezittert. Aber es waren keine Eingeborenen, die hier um die nackte Existenz bangten, sondern Spanier. Einundzwanzig Männer: ein Gouverneur, ein Schiffsproviantmeister, ein Sub-Teniente und achtzehn Seeleute und Seesoldaten.
Sie hatten Glück und Pech gehabt. Die Flucht von Grand Turk war ihnen gelungen, sie hatten ihre Haut gerettet, die sie sonst für einen gewissen Don Gonzalo de Vallejo zu Markte hätten tragen müssen. Aber von dessen Auftauchen wußten sie schon nichts mehr. Sie waren Don Garcia Cubera von der Fahne gegangen, als sich eine günstige Gelegenheit dazu geboten hatte.
Mit anderen Worten: Don Antonio de Quintanilla, der dicke Gouverneur von Havanna, hatte Alonzo Coloma, den fetten Proviantmeister der „San José“ und den Schaluppenführer Vicente de Pinzón bestochen und zu dem Unternehmen überredet. Die Besatzung der Schaluppe hatte auch nichts dagegen einzuwenden gehabt, zu desertieren. So hatte sie sich abgesetzt und waren auf Umwegen nach Great Inagua gelangt, wobei sie auch noch eine Kriegskaravelle und die „Empress of Sea“, abgehängt hatten, die sie verfolgt hatten.
Hier hatten sie erst einmal ein Gelage gefeiert, mit einem erlegten Schwein und reichlich Rotwein. Aber dann ging plötzlich alles schief. Jetzt waren sie ihre schöne Schaluppe los und hatten nur noch das Beiboot. Außerdem hatte der Hurrikan ihnen schwer zugesetzt. Sie alle erweckten einen verwahrlosten, abgerissenen und verbiesterten Eindruck. Sie waren völlig nüchtern und gaben sich, was ihre Situation betraf, keinen Illusionen mehr hin.
Schwerfällig erhob sich Don Antonio de Quintanilla von seinem provisorischen Nachtlager und wankte von der Lichtung, auf die sich im Sturm hatten zurückziehen können, durch das Dickicht zum Strand der Bucht. Hier blickte er sich um.
Die