Seewölfe - Piraten der Weltmeere 236. John Roscoe Craig
er dieses eigenartige Gefühl in sich nie würde unterdrücken können. Er war sich nicht einmal selbst bewußt, was dieses Gefühl war – Neugierde, Kampfeslust, der Wunsch, einem in Bedrängnis geratenen Menschen zu helfen. Wahrscheinlich spielten diese Dinge alle zusammen.
Als er erkannt hatte, daß die wie Mauren gekleideten Angreifer den Kampf um die Galeere verlieren würden, hatte er Ferris Tucker befohlen, einen Warnschuß abzufeuern. Dadurch, daß sich die Galeere in die Schebecke verkeilt hatte, war sie manövrierunfähig geworden und konnte so das Buggeschütz, das als einziges die „Isabella“ hätte gefährden können, nicht in Einsatz bringen, da es fest montiert war.
Erst nach dem zweiten Schuß waren die Kämpfe auf der Galeere eingestellt worden. Der Seewolf sah, wie die bunt gekleideten Angreifer, die den Kampf überlebt hatten, fluchtartig die Galeere verließen und auf die am Heck liegende Tartane sprangen. Der Mann mit dem Turban hechtete mit einem gewaltigen Satz ins Wasser.
„So – und jetzt?“ fragte Ben Brighton.
Der Seewolf hörte den vorwurfsvollen Unterton in der Stimme seines Ersten Offiziers, und er ärgerte sich, wahrscheinlich aber mehr über sich selbst als über Ben.
„Na, immerhin könnten auf der Galeere eine Menge Sklaven angekettet sein, die sich freuen würden, wenn sie mal wieder das tun könnten, was sie wollten“, sagte hinter ihnen die dunkle Stimme Carberrys.
Hasard wandte den Kopf und begann zu grinsen.
„Du sagst es, Ed“, erwiderte er. „Es ist unsere Christenpflicht, den armen Teufeln zu helfen.“
Ben Brighton spürte, daß die Worte gegen ihn gingen.
„Wer weiß denn, ob es arme Sklaven sind, verdammt“, sagte er wütend. „Vielleicht ist es eine Galeere mit Sträflingen. Mit Mördern, Frauenschändern, Totschlägern und Diebsgesindel. Na los, fahrt rüber und schließt ihnen die Ketten auf. Glaubt aber nicht, daß ich auch nur mit der Wimper zucke, wenn sie euch gleich darauf mit ihren Ketten erschlagen.“
„Das nenn ich Freundschaft!“ erwiderte Carberry mit dröhnender Stimme. „Hast du das gehört, Sir? Er hat nicht mal ein nettes Wort für uns übrig, wenn wir unsere große Reise antreten!“
„Nicht, wenn ihr euch wie Idioten benehmt und Selbstmord begeht!“ gab Ben grimmig zurück.
„Schluß!“ sagte Hasard. „Wir werden keinen Selbstmord begehen, Ben. Ich werde mit Carberry und Dan zur Galeere übersetzen und mit dem spanischen Kommandanten sprechen. Dann werden wir sehen, ob es sich um Sklaven oder Sträflinge handelt.“
Ben Brighton unterdrückte ein Stöhnen. Er wußte, daß es vergeblich sein würde, Hasard davon abzuhalten, zur Galeere überzusetzen, aber er verfluchte den Leichtsinn des Seewolfs, der immer wieder unnötig sein Leben aufs Spiel setzte.
„Sie könnten euch als Geiseln nehmen und gegen uns ausspielen“, sagte er resignierend.
Hasard winkte ab.
„Dann setzt du ihnen eine Kugel genau in den Rumpf. Das wird sie schon wieder zur Besinnung bringen.“
Ben Brighton wandte sich ab. Mit gepreßter Stimme gab er den Befehl, das Boot abzufieren, und teilte vier Männer ein, die Hasard, Carberry und Dan O’Flynn zur Galeere hinüberpullen sollten.
Arwenack spielte verrückt, als Dan über das Schanzkleid kletterte. Er sprang aus den Wanten auf Dans Rücken und kreischte, als ob er geschlachtet werden solle. Es gelang Dan nur mit Mühe, den Schimpansen zu beruhigen. Als Bill ihn entgegennehmen wollte, schnappte Arwenack zu. Die scharfen Zähne fetzten ein Stück Stoff aus Bills Hemdärmel, und fluchend schüttelte er die Faust hinter dem Schimpansen her, der wie der Blitz die Wanten hinaufflitzte und vom Großmars aus weiterschimpfte.
Der Seewolf gab seinen Männern noch Anweisungen, hart zurückzuschlagen, wenn die Spanier irgend etwas versuchen sollten. Dann ging er als letzter ins Boot.
Die See war trotz des frischen Windes, der von Süden blies, verhältnismäßig ruhig. Hasard, der das Ruder des Bootes übernommen hatte, sah, wie sich die spanischen Bogenschützen an Bord der Galeere und die Männer auf der Schebecke gegenseitig belauerten. Aber niemand wagte es, angesichts der Bedrohung durch die englische Galeone die Kampfhandlungen wieder zu eröffnen.
Der Seewolf steuerte das Boot so, daß es sich keinen Augenblick in der Schußlinie zwischen der „Isabella“ und der Galeere befand. Er hielt auf das Heck der Galeere zu. Unter dem roten Baldachin, der die Espale, die hintere Plattform, überspannte, stand der spanische Kommandant mit zusammengepreßten Lippen. Immer wieder glitt der Blick des Spaniers zu der Galeone hinüber. Er wußte wohl, daß ein einziger Fehler von ihm seinen Männern das Leben kosten würde.
Unbehelligt erreichte das Boot das mit Goldornamenten geschmückte Heck der Galeere. Hasards Blick glitt von dem Kommandanten zu dem Mann hinter der kleinen Heckkanone, der das Rohr auf das Boot ausgerichtet hatte.
Aus dieser Entfernung bleibt nicht viel von uns übrig, wenn der Mann schießt, dachte der Seewolf, aber der Kommandant, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte, unternahm keine Anstalten, den Befehl zum Feuern zu geben.
Sie pullten neben die Heckstelling, und Hasard schwang sich auf den hinuntergelassenen Niedergang, der zur Espale hinaufführte. Carberry und Dan folgten ihm. Das Boot legte sofort wieder ab. Hasard hatte Befehl gegeben, sich außer Reichweite der Bogenschützen zurückzuziehen und erst auf sein Zeichen zur Galeere zurückzukehren.
Im Gesicht des spanischen Kommandanten zuckte kein Muskel, als Hasard vor ihm Aufstellung nahm und mit einer Ehrenbezeigung grüßte.
Der Spanier schien keinen Wert auf Formalitäten zu legen, obwohl er wie ein Caballero gekleidet war.
„Was wollen Sie von uns?“ stieß er in einem erstaunlich akzentfreien Englisch hervor. An dem rollenden R erkannte Hasard, daß er seine englischen Sprachkenntnisse von einem schottischen Lehrer haben mußte.
Der Seewolf warf einen Blick auf die Ruderbänke. Er sah sofort, daß die Ruderer angekettet waren. Also handelte es sich tatsächlich um Sklaven oder Sträflinge. Ein Großteil der Rüderer sah schlimm aus. Auf der Steuerbordseite lagen einige von ihnen blutüberströmt und bewegungslos über den Bänken.
Der Seewolf wies zu den angeketteten Ruderern hinunter.
„Ich bin Engländer, Señor“, erwiderte er, „und als Engländer gefällt mir der Anblick angeketteter Männer nicht.“
Hasard las den Haß in den Augen des Spaniers und wußte, daß dieser Haß nicht nur daher rührte, daß er mit seiner Galeone die Galeere bedrohte.
„Es interessiert mich nicht, was Sie beim Anblick von Galeerensträflingen empfinden, Engländer“, erwiderte der Kommandant. „Was wollen Sie? Wir haben nichts an Bord, was sich lohnt, zu stehlen.“
Er hatte das Wort „Engländer“ regelrecht ausgespuckt. Hasard ahnte jetzt, woher der Haß dieses Mannes rührte.
Ein Offizier im Rang eines Hauptmanns trat neben den Kommandanten.
„Wir sollten sie an die Backbordwanten binden, Conde“, sagte er auf Spanisch, „dann werden sie sich hüten, auf uns zu schießen.“
„Sie haben Befehl, auf jeden Fall zu schießen, Capitan“, antwortete Hasard statt des Kommandanten. Er sprach ebenfalls Spanisch, damit die Männer wußten, daß er sie verstand. „Ich verlange, daß die Ketten der Sklaven aufgeschlossen werden. Wer von den Männern die Galeere verlassen will, kann es tun. Er kann an Bord der Schebecke gehen.“
Die Augen des Kommandanten sprühten vor Haß.
„Jetzt bist du der Stärkere, Engländer!“ stieß er zischend hervor. „Deine Kanonen beschützen dich. Aber bete zu Gott, daß du mir nie wieder begegnest, denn das wird dein letzter Tag unter der Sonne sein!“
Hasard konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Wo sollte er diesem Mann noch einmal begegnen? Er würde weitersegeln, wenn die Galeerensklaven befreit waren. Mit seiner unterbemannten