Seewölfe - Piraten der Weltmeere 564. Burt Frederick
Impressum
© 1976/2019 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-971-0
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Burt Frederick
Der Höllenfürst
Seine Gegner sehen ihn nie, und doch jagt er sie in die Luft – zu Lande und zu Wasser
Dunkelheit lastete über Istanbul. Der hagere Mann mit dem Ziegenbart harrte in einer Tornische aus. Er horchte auf die nächtlichen Geräusche der Stadt. Als sich Hufschlag näherte, zuckte er unwillkürlich zusammen. Aber gleich darauf entspannte er sich wieder. Der Reiter war in einer der parallel verlaufenden Gassen unterwegs.
Das hohl klingende Schlagen der Hufeisen entfernte sich rasch. Der Reiter mochte dem Hafen zustreben, von wo der frische Salzgeruch des Meeres herüberwehte.
Der Ziegenbärtige fröstelte. Die Nacht wurde kühler und kühler.
Warum nur konnten sich die hohen Herrschaften herausnehmen, unpünktlich zu sein?
Gehörte das zum Ausdruck ihrer Macht? Lächerlich. Sie waren sterblich wie alle anderen. Auch wenn sie glaubten, über Leben und Tod entscheiden zu können …
Die Hauptpersonen des Romans:
Süleyman Ayasli – in Istanbul kennt man ihn nur unter dem Namen „Höllenfürst“ – und der entspricht seiner Tätigkeit.
Münnever Yildiz – eine reiche Türkin mit einem Herzen für die Armen, auch wenn ihr Mann einen schrecklichen Tod stirbt.
Öbül – er geht dem „Höllenfürsten“ zur Hand und bringt ihm die Aufträge, die den Tod für einen oder mehrere Menschen in Istanbul bedeuten.
Mehmet Küzürtüsi – bewohnt einen prächtigen Palast und wird von Leibwächtern beschützt – bis die Arwenacks auf den Plan treten.
Philip Hasard Killigrew – der Seewolf hat ein persönliches Interesse, Münnever Yildiz zur Seite zu stehen.
Inhalt
1.
Der Wartende beschloß, noch höchstens eine Stunde auszuharren. Mehr Geduld konnte man nicht einmal von ihm verlangen, obwohl er nichts weiter als ein kleiner Befehlsempfänger war, einer, der für Geld mündliche und schriftliche Nachrichten überbrachte oder kleine Dienstleistungen ausführte.
Das bedeutete aber noch lange nicht, daß man ihn behandeln konnte wie einen Köter.
Er schloß seinen zerschlissenen Umhang höher um den Hals. Der Stoff war dünn und erfüllte seinen Zweck nur tagsüber, wenn die Sonne auf die große Stadt am Bosporus niederbrannte. Der Ziegenbärtige war es nicht gewohnt, sich halbe Nächte im Freien um die Ohren zu schlagen.
Er sehnte sich nach seiner Behausung, die zwar ärmlich sein mochte, in der aber die weiche Wärme eines weiblichen Körpers auf ihn wartete. Er würde nie wieder Aufträge wie diesen annehmen – ohne Vorauszahlung, nur in der Hoffnung, daß der Mann, den er treffen sollte, auch wirklich auftauchte und ihm seinen Botenlohn aushändigte.
Während der folgenden Minuten erging er sich im Selbstmitleid. Er trat von einem Bein auf das andere und schlug die Arme um den Oberkörper, um sich warm zu halten. Dabei beklagte er in Gedanken sein Schicksal.
Was mochte sich Allah nur dabei gedacht haben, daß er ihn sein Geld auf diese Weise verdienen ließ – auf diese erbärmliche Weise. Immer mußte er sich nach den Wünschen und Befehlen anderer richten, immer mußte er bereit sein und konnte praktisch nie über sich selbst bestimmen.
Aber er konnte noch von Glück reden, daß er überhaupt eine Möglichkeit hatte, für das tägliche Brot seiner Familie zu sorgen. Viele in dieser erhabenen und doch zugleich so grausamen Stadt lebten in Armut. Die Reichen kümmerte das nicht.
Nein, falsch, sagte sich der einsame, frierende Mann. Sei nicht ungerecht. Du weißt, selbst unter den Reichen gibt es Menschen, die ein Herz haben. Er dachte an Münnever, die Frau des reichen Kaufmanns Kemal Yildiz.
Ihre grenzenlose Güte rührte an das Herz eines jeden armen Menschen in Istanbul.
Sie war eine Heldin.
Erneute Hufgeräusche rissen den Mann mit dem Ziegenbart aus seinen Gedanken. Er horchte und vergaß dabei das Zittern. Die Erwartung eines baldigen Heimwegs stimmte ihn froh.
Auf eine seltsame Weise war er sicher, daß dies der Reiter sein mußte, mit dem er verabredet war. Manchmal gab es das eben – etwas wissen, ohne es erklären zu können.
Das Hufgetrappel näherte sich in der Tat. Es erreichte die Gasse, in der der Ziegenbärtige wartete. Sekunden später, als der Reiter ganz nahe war, trat er aus seinem Versteck hervor. Er war nur ein Schatten in der Dunkelheit, aber das Pferd schnaubte und stieg auf die Hinterhand. Der Reiter beruhigte es mit leisen Worten.
Im Mondlicht, das nur einen Hauch von Helligkeit spendete, war er nur schemenhaft zu erkennen. Wo sein Gesicht war, schimmerte helle Seide. Er trug eine Maske. Der Ziegenbärtige konnte jetzt die dunklen Augenschlitze erkennen.
„Bist du der Mann, der einen Botendienst für mich übernehmen wird?“ fragte der Reiter. Der Klang seiner Stimme und die Wahl seiner Worte waren die eines gebildeten Menschen.
„Ja, Effendi, der bin ich“, erwiderte der Ziegenbärtige. Er verneigte sich, obwohl das in der Dunkelheit kaum zu sehen war. Aber ohne erklärbaren Grund schrieb er dem hohen Herrn die Fähigkeit zu, ihn trotz der Finsternis beobachten zu können.
„Tritt näher“, befahl der Reiter.
Der Mann in dem dünnen Umhang gehorchte. Das Pferd schnaubte leise. Er roch den Schweiß des Tiers und das Fett, mit dem das Sattelleder eingerieben war. In dem Haus, aus dem der Mann stammte, mangelte es offenbar an nichts. Auch nicht an der Zeit, die für eine gründliche Pflege aufgewendet werden mußte, damit Gegenstände ihren Wert behielten.
„Zu Ihren Diensten, Effendi“, sagte der Ziegenbärtige und verbeugte sich abermals.
Der Mann im Sattel zog einen kleinen Briefumschlag unter seinem Gewand hervor.
„Der Brief ist versiegelt“, sagte er. „Der Empfänger würde es sofort bemerken, wenn jemand versuchte, ihn zu öffnen.“
„Niemals würde ich auf einen solchen Gedanken verfallen, Effendi“, beteuerte der Bote.