Seewölfe - Piraten der Weltmeere 458. Roy Palmer
durfte man die Patrouillenfahrten nicht vergessen. Täglich vier bis sechs Stunden galten den Pflichtübungen – wie jetzt. Mit Kurs Südosten segelten die beiden Karavellen und ließen die Küste der Insel und die Windward-Passage achteraus. Der Wind fiel aus Nordosten ein. Man hatte keinerlei Mühe, den Kurs zu halten. Es war ein ruhiger, uninteressanter Routinedienst. Sanchez y Loyola schlief fast im Stehen ein.
Doch ein Ruf seines Ausgucks im Großmars ließ ihn aufhorchen.
„Mastspitzen!“ rief der Mann. „Backbord voraus!“
Sanchez y Loyola hob wieder träge das Spektiv und spähte hindurch. Er konnte aber keine Mastspitzen entdecken. Sehr scharfe Augen hatte er nie gehabt, er mußte sich auf seinen Ausguck verlassen.
Daß der Mann sich nicht geirrt hatte, bewies die Meldung des Ausgucks, die von der „Santa Foca“ herübertönte. „Mastspitzen!“
„Was für ein Schiff?“ rief Sanchez y Loyola zum Großmars hoch.
„Noch kann ich es nicht erkennen, Señor!“
„Wie viele Masten?“
„Drei!“
„Kurs auf den Dreimaster!“ ordnete Sanchez y Loyola an. „Wir sehen ihn uns mal genauer an!“
Er gähnte hinter der vorgehaltenen Hand. Was für ein Dreimaster sollte das schon sein? Ein Spanier natürlich, ein Landsmann. Wahrscheinlich ein Handelsfahrer auf dem Weg nach Jamaika oder wußte der Teufel wohin – was scherte es ihn? Er, Sanchez y Loyola, würde ihn vorschriftsgemäß überprüfen und dann reisen lassen. Die Kontrolle bestand in den Zurufen „Welches Schiff?“ und „Welcher Kapitän?“ und vielleicht noch „Welche Ladung?“. Damit hatte sich der Fall.
Die Karavellen luvten etwas an und segelten auf den fremden Dreimaster zu.
„Es ist eine Galeone, Señor!“ meldete bald darauf der Ausguck der „San Valentino“.
„Ein Spanier?“ erkundigte sich Sanchez y Loyola gelangweilt und war selbstverständlich sicher, daß es sich um einen Landsmann handelte.
Piraten benutzten keine Galeonen, sie hatten entweder flinke Einmaster, Schaluppen oder Pinassen, höchstens aber zweimastige Karavellen. Nur in ganz seltenen Fällen verfügten sie über Galeonen, die sie irgendwo aufgebracht hatten.
„Ich sehe keine Flagge, Señor!“ rief der Ausguck.
„Eine Galeone ohne Flagge?“
„Sie scheint keine Flagge zu führen!“
Sanchez y Loyola wurde nun doch etwas wacher. Kein Spanier segelte durch die Karibik, ohne seine Nationalität durch seine Flagge kundzutun. Hatten sie es also doch mit einem Schnapphahn-Schiff zu tun? Sanchez y Loyola ließ de Andregona signalisieren. Dieser gab durch Zeichen zu verstehen, daß auch er nicht mehr erspäht hatte.
Plötzlich aber stieß der Ausguck der „San Valentino“ einen scharfen Ruf aus.
„Sie setzen die Flagge!“ schrie er. „Es ist die weiße – die mit dem roten Georgskreuz!“
„Der Teufel soll sie holen“, sagte Sanchez y Loyola. „Engländer also? Zur Hölle mit ihnen.“
Die fremde Galeone hatte inzwischen nicht nur die Flagge mit dem roten Kreuz auf dem weißen Feld gehißt, sondern darunter auch einen großen weißen Wimpel mit durchgehendem rotem Georgskreuz.
„Kurs halten!“ schrie Sanchez y Loyola. „Klarschiff zum Gefecht!“
Es wurde rege an Deck der „San Valentino“ und der „Santa Foca“. Die Männer rannten die Kanonen aus und richteten sich auf den Gefechtsstationen ein.
Ein Engländer südlich von Hispaniola, der nicht einmal den Versuch unternahm, seine Herkunft zu verheimlichen – das war ein starkes Stück! Sanchez y Loyola verspürte im Grunde nicht die geringste Lust, sich mit den „verfluchten Bastarden“ herumzuschlagen, aber es war seine Pflicht, das Schiff zu stellen und zu requirieren. Engländer hatten in der Karibik nichts zu suchen, sie war spanisches Hoheitsgebiet.
Diesen Hunden werden wir es jetzt mal zeigen, dachte er, und plötzlich war er hellwach.
Zur selben Zeit näherten sich zwei sehr unterschiedliche Schiffe aus südlicher Richtung der Windward-Passage. Fast schien es unmöglich zu sein, daß sie zusammengehörten – und doch waren die insgesamt drei Crews, die sich an Bord befanden, durch ein Bündnis fest zusammengeschmiedet.
Die schlanke Dreimastkaravelle mit der Lateinertakelung war von den Männern auf den Namen „Golden Hen“ getauft worden, und zwar wegen einer Begebenheit, bei welcher der gute Mac Pellew plötzlich allen Ernstes geglaubt hatte, daß die Hühner, die mit an Bord waren, goldene Eier legten. Daß man ihn gründlich „vergackeiert“ hatte, hatte er immer noch nicht richtig begriffen.
Früher hatte die „Golden Hen“ Piraten gehört. An der Bucht von San Blas waren sie von Philip Hasard Killigrew, dem Seewolf, und dessen Kameraden gekapert worden. Nur ganz wenige Überlebende hatte es bei den Schnapphähnen gegeben, ihr Schlupfwinkel war zerstört.
Wie die Karavelle früher geheißen hatte, war nicht bekannt. Sie war ein guter Am-Wind-Segler, ein Renner obendrein, jedoch war ihre Armierung nicht überragend. Sie verfügte über lediglich zwölf Culverinen, sechs an jeder Schiffsseite, und Drehbassen, die in schwenkbaren Gabellafetten montiert waren.
An Bord befanden sich der Seewolf und dessen Crew sowie Jean Ribault samt Mannschaft, außerdem Pater David und neuerdings auch Don Juan de Alcazar. Von dem Potosi-Unternehmen, zu dem dieser Trupp – außer Don Juan – im vergangenen Jahr aufgebrochen war, war nur ein Mitglied der Expedition nicht lebend zurückgekehrt: Araua, die Tochter von Arkana und Hasard. Im Kampf gegen die chinesischen Piraten hatte sie ihr Leben gelassen.
Bei dem zweiten Schiff handelte es sich um einen düsteren Zweidecker vom Galeonen-Typ, mit dunkel gelohten Segeln. Eine beständige Drohung schien von diesem Segler auszugehen. Es handelte sich um die „Caribian Queen“. Einstmals hatte sie der Black Queen gehört, doch die Black Queen war nicht mehr am Leben, und ihr Schiff gehörte jetzt Siri-Tong, der Roten Korsarin.
Siri-Tong war mit ihrem Schiff und ihrer Crew nach San Blas gesegelt, nachdem auf der Schlangen-Insel die Brieftaubenbotschaft aus Havanna eingetroffen war. Arne von Manteuffel, der zufällig in Panama gewesen war und dort Dan und einen Trupp der Arwenacks angetroffen hatte, hatte den Bund der Korsaren entsprechend unterrichtet.
Die Rote Korsarin hatte Hasard und dessen Trupp abholen sollen, doch wie es der Zufall wollte, hatte der Seewolf sich inzwischen bereits durch eigene Initiative ein Schiff für die Überfahrt zur Schlangen-Insel beschafft.
Ein weiterer überraschender Vorfall hatte sich abgespielt, als Hasard, Ribault und Siri-Tong den Verband spanischer Schiffe aufgebracht hatten, den eigentlich die Piraten hatten überfallen und ausplündern wollen. Sie waren unverhofft wieder auf Don Juan de Alcazar gestoßen, der sich als Gefangener an Bord einer der Galeonen befand.
Don Juans Mission, im Auftrag des Königs von Spanien den Gouverneur von Kuba, Don Antonio de Quintanilla, zu verhaften und nach Spanien zu verbringen, war aufgrund von Intrigen fehlgeschlagen. Die königliche Order als Rechtsgrundlage für die Verhaftung des Gouverneurs wurde ihm an Bord der Kriegsgaleone „San Jorge“ gestohlen und vermutlich vernichtet.
Don Juan selbst war nur mit knapper Not dem Tod entronnen. Die Seewölfe hatten ihn von der sinkenden Galeone abbergen können. Don Juan hatte den Kommandanten der „San Jorge“ – Don José de Moncayo – zur Rechenschaft gezogen und in einem Degenduell getötet.
Danach hatte sich de Alcazar entschlossen, Mitglied des Bundes der Korsaren zu werden. So befand er sich ebenfalls an Bord der „Golden Hen“, und fortan würde er für immer bei den Arwenacks, den „Vengeurs“ und den anderen Freunden bleiben.
Die beiden Schiffe hatten die Morant Keys vor der Südostküste Jamaikas passiert und segelten an diesem Vormittag in Kreuzschlägen gegen den Wind aus Nordosten auf die Windward-Passage zu. Bislang war die Fahrt