Seewölfe - Piraten der Weltmeere 570. Roy Palmer
betrat die Haupthöhle. In dem Licht, das von außen einfiel, waren die Kerle zu erkennen, die auf dem Boden hockten und würfelten. Es waren gut fünfzehn Mann.
Die übrigen Bandenmitglieder waren auf die anderen Höhlen verteilt. Insgesamt zählte die Meute vierzig Kerle. Kerle, die keine Skrupel und kein Erbarmen kannten, wenn es darum ging, Beute zu reißen.
Doch ihr Anführer war eine Frau. Piros Blick richtete sich auf sie. Rosalba hatte sich auf ihrem Lager ausgestreckt, träge und lasziv. Sie beobachtete die Kerle beim Spielen. Manchmal nahm sie einen Schluck Wein aus einem großen Becher zu sich.
Sie war ein hübsches Weib, diese Rosalba, schwarzhaarig und verführerisch. Aber wehe dem, der sich ihr mit eindeutigen Absichten näherte! Rosalba, die Piratin, traf selbst die Wahl, wenn sie mit einem ihrer Kerle ins Bett gehen wollte. Und das hing ganz und gar von ihrer Lust und Laune ab. Versuchte einer, sie mit Gewalt zu nehmen, so brachte sie ihn um.
Piro konnte sich an eine derartige Episode erinnern. Ein Grieche, der eines Tages neu zu der Bande gestoßen war, hatte geglaubt, ein großer Weiberheld zu sein, auf den die Frauenzimmer nur so flogen. In einer Nacht hatte er sich zu Rosalba geschlichen. Nur wenige Laute waren zu hören gewesen. Dann hatte Rosalba den Kerl in die Bucht geworfen. Als er sie gepackt hatte, hatte sie ihm mit dem Messer, das sie immer bereithielt, kurzerhand die Gurgel durchgeschnitten.
Die Kerle kannten ihre Anführerin. Alle wußten, daß Rosalba unerhört schnell war. Schnell mit der Pistole, schnell mit dem Degen, schnell mit dem Messer. Und schnell war sie auch mit den bloßen Fäusten.
Piro wußte, daß sie einen Kerl mit den Händen umgebracht hatte, als sie erst siebzehn Jahre alt gewesen war.
Mit Rosalba war nicht zu spaßen. Alle hatten einen immensen Respekt vor ihr. Keiner wagte, auch nur einen Witz über sie zu reißen. So hielt Rosalba die wilde Meute im Zaum. Sie regierte mit eiserner Hand. Die Kerle tanzten nach ihrer Pfeife. Sie waren ihr regelrecht hörig.
„Also los, spuck’s aus“, sagte Rosalba zu dem Kerl mit dem roten Kopftuch. „Was liegt an?“
„Ein Schiff“, entgegnete Piro. „Es ist eben in die Südostbucht eingelaufen.“
„Ein großer Kahn?“ erkundigte sich die Frau schläfrig. Die Nachricht schien sie nicht im geringsten zu beeindrucken. Aber Piro wußte, daß sie hellwach war.
„Ein Zweimaster“, erklärte er. „Eine Dubas, schätze ich.“
„Welche Flagge?“
„Es war keine zu erkennen“, antwortete Piro. „Ich weiß also noch nicht, aus welchem Land der Kahn kommt. Es sind etwa drei Dutzend Kerle an Bord. Sie haben auch einen Schwarzen dabei. Und einen Hund. Ach ja, und einen Affen und einen Papagei auch.“
Die Kerle, die lauschend die Köpfe gehoben hatten, stimmten ein brüllendes Gelächter an.
„Was ist denn das?“ johlte einer von ihnen. „Ein schwimmender Zirkus?“
„Fast könnte man’s meinen“, sagte Piro.
Rosalba war mit einem Satz auf den Beinen. Die Kerle verstummten sofort. „Wie sehen die übrigen Kerle an Bord aus?“ wollte sie wissen.
„Es sind Weiße“, erwiderte Piro.
„Glaubst du, daß sie Freibeuter sind?“
„Es könnte sein“, sagte der Mann mit dem roten Kopftuch.
„Wie ist die Dubas armiert?“ fragte Rosalba nun.
„Sie hat sechs Drehbassen“, wußte Piro zu berichten und fuhr fort: „Acht Kerle sind mit dem Beiboot gelandet. Der Hund ist bei ihnen.“
„Ich will mir selbst ein Bild von der Lage verschaffen“, sagte die Piratin.
Sie griff nach ihrem Degen und nach ihrer Pistole. Schnell teilte sie zehn Kerle ein, die sie begleiten sollten. Piro war natürlich dabei. Sofort brach die Gruppe zu dem Aussichtspunkt auf.
Die anderen lüden ihre Waffen und hielten die Augen nach allen Seiten offen. Wenn ein Schiff nahte, konnten auch weitere möglicherweise nicht fern sein, lautete ihre einfache Theorie. Das war Erfahrung.
Manchmal versuchten fremde Schnapphähne, auf Kithira zu landen und Fuß zu fassen. Rosalba und ihre Kerle hatten bisher noch jeden Rivalen verscheucht. Sie taten, als gehöre die Insel ihnen. Seit Jahren hatten sie ihren Schlupfwinkel in den Höhlen über der Felsenbucht.
Die Felsenbucht war ein ideales Versteck. Von der See konnte man nicht in die Bucht blicken und die Pinassen sichten. Hier war die Bande so sicher wie in einer Festung. Deshalb hatte Rosalba auch nie einen neuen Standort gewählt.
Gewiß, die Südostbucht zum Beispiel wäre ein bequemerer und wärmerer Platz gewesen. Aber wenn ein Angriff von See erfolgte, war man dort ziemlich ungeschützt.
Rosalba wußte genau, was sie wollte und was gut und richtig für ihre Bande war. Sie bestimmte die Strategie und Taktik, sie legte alle Pläne für die Raids zurecht, zu denen die Pinassen in unregelmäßigen Zeitabständen ausliefen.
Am liebsten überfielen die Piraten die Orte an der südlichen Festlandsküste. Sie mordeten, plünderten und brandschatzten. Dann verschwanden sie wie ein Spuk.
Bisher war keinem Gegner gelungen, sie zu fassen. Griechische Kriegsschiffverbände, die nach ihnen gefahndet hatten, waren immer erfolglos in ihre Heimathäfen zurückgekehrt.
Hin und wieder brachten Rosalba und ihre Kerle auch Einzelsegler auf. Sie enterten sie bei Nacht, metzelten die Besatzungen nieder und klauten, was es zu klauen gab. Wenn das Schiff etwas taugte, behielten sie es. So hatten sie auch die beiden Pinassen gekapert. Früher hatte der „Verband“ nur aus zwei Einmastern bestanden.
Rosalba, Piro und die anderen Kerle des Spähtrupps stiegen zu der Anhöhe hinauf. Hier kletterte Rosalba mit dem Kopftuchträger auf die Pinie. Aufmerksam betrachtete die Frau die Dubas, die in der Bucht vor Anker lag, durch den Kieker. Sie stieß einen leisen Pfiff aus.
„Griechen, Türken oder Russen sind das nicht“, sagte sie leise.
„Vielleicht Italiener“, meinte Piro.
„Nein. Engländer, Franzosen oder Holländer, von dem Schwarzen mal abgesehen.“
„Warum zur Hölle haben die aber eine Dubas?“ fragte Piro verdutzt. „Warum segeln sie nicht mit einer Galeone oder Karavelle?“
„Das weiß der Henker“, entgegnete die Anführerin. „Aber wir kriegen es schon noch raus, keine Sorge. Von dem Landtrupp ist übrigens nichts mehr zu sehen.“
„Satan“, fluchte Piro. „Die bewegen sich durch das Dickicht, und wir können sie dabei nicht beobachten.“
„Wir werden sie gefangennehmen“, erklärte Rosalba. „Aber wir müssen es richtig anpacken. Anfänger sind das nicht, das sage ich dir. Ich schätze, daß sie erfahrene Kämpfer sind. Irgendeinem billigen Trick gehen sie nicht auf den Leim. Und sie haben einen Hund.“
„Er sieht aus wie ein Wolf“, sagte Piro.
Rosalba ließ den Kieker sinken. „Dann hat er garantiert eine gute Nase. Wir dürfen uns von dem Biest nicht aufstöbern lassen.“
„Was hast du eigentlich vor?“ fragte Piro.
Rosalba grinste. „Ich will die Dubas. Sie ist ein gutes Schiff, das wir gebrauchen können.“
„Und die Kerle an Bord?“
„Die murksen wir alle ab“, erwiderte Rosalba gelassen. „Einen nach dem anderen.“
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