Seewölfe - Piraten der Weltmeere 496. Roy Palmer

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 496 - Roy Palmer


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war. Er war erst sechzehn Jahre alt. Es würde ihn nur schockieren, vor den Kopf stoßen, was Webster angerichtet hatte.

      Verzweifelt versuchte Jessica Baker, ihrer Panik Herr zu werden. Es wollte ihr nicht gelingen. Weinend richtete sie sich vom Boden auf. Was sollte sie tun?

      Ich bringe mich um, dachte sie. Gehetzt blickte sie sich nach allen Seiten um. Warum hängte sie sich nicht an einen Baum, wie der Tischler John Moore es getan hatte? Schluß machen, dachte sie, das ist die einzige Möglichkeit.

      Jessica lief zu einem Baum und versuchte, den Stamm hochzuklettern. Aber sie rutschte daran hinunter. Sie schluchzte auf und probierte es noch einmal, mit dem gleichen Mißerfolg. Ihr Plan war, auf einen Ast zu klettern und sich dort eine der Lianen um den Hals zu legen. Dann würde sie nach unten springen. Ein Ruck, und es war vorbei. Nicht wahr? Oder war es doch nicht so einfach?

      Schwer atmend hockte sich das Mädchen wieder auf den Boden und weinte sich aus. Die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit wichen dem Trotz und der Wut. Warum sollte sie Selbstmord begehen? Hatte sie denn etwas verbrochen? Der Verbrecher war Jeremiah Josias Webster – er gehörte angeklagt!

      Schniefend wischte sich Jessica mit den Händen die Tränen aus dem Gesicht. Sie hob den Kopf. Nein! Wer seinem Dasein durch eigene Hand ein Ende setzte, war ein Feigling und Sünder. In der Bibel hieß es, der Herr habe das Leben gegeben und sei der einzige, der es auch wieder nehmen dürfe. Folglich war es ein schweres Vergehen, wenn sie, Jessica Baker, auf diesen Baum stieg und sich die Gurgel mit einer Liane abdrehte.

      Aber – war denn John Moore ein Feigling und Sünder gewesen, weil er sich einfach aufgehängt hatte? Unsinn, dachte Jessica zornig, das ist doch gar nicht wahr! Ihr Onkel, John Baker, hatte anklingen lassen, daß Moore vielleicht eher durch einen „Unfall“ ums Leben gekommen war.

      Wie dieser Unfall ausgesehen haben mochte, wurde dem Mädchen erst in diesem Moment richtig klar. Webster – er hatte Moore an den Baum gehängt!

      Erschüttert erhob sich das Mädchen. Webster war also ein Mörder. Ein Mörder und Frauenschänder. Kein Großmeister, Erhabener und Heiliger, das Flammenschwert Gottes sozusagen, sondern ein Strolch und Lumpenhund.

      Er war ein perverser Lüstling, der sich sogar daran ergötzte, wenn er seine Opfer quälen konnte. Hatte er nicht verzückt, wie im Rausch, dreingeschaut, als er die „Hurerin“ an Bord der „Kyrie eleison“ ausgepeitscht hatte? Und sicherlich hatte er schon so manche Frau, auch während der Überfahrt, zu sich in die Koje seiner Kapitänskammer gelockt.

      All das ging Jessica Baker auf, und sie erlitt einen neuerlichen Schock. Aber trotz allem war sie ein starkes, charakterfestes Mädchen. Sie beschloß, nicht zu sterben, sondern zu ihrer Familie und zu ihrer Gemeinde zurückzukehren.

      Vorsichtig tastete sie ihr Gesicht, dann den Körper ab und untersuchte sich genau. Sie stöhnte vor Entsetzen auf. Nicht nur ihre Kleidung war zerfetzt und zerrissen, Sie hatte auch aufgeplatzte Lippen und ein verschwollenes Auge. Wie sollte sie sich verarzten und alles soweit wieder in Ordnung bringen, daß keinerlei Verdacht entstand, wenn sie zur Festung zurückkehrte?

      Nun, das war ja nicht erforderlich. Jessica brauchte nur alles zu berichten und Webster öffentlich an den Pranger zu stellen. Einige Männer warteten offensichtlich nur darauf, eine Handhabe gegen den Großmeister zu haben. Sie würden sich auf ihn stürzen und ihm den Garaus bereiten, allen voran Jessicas Onkel John Baker.

      Nein, nein, dachte sie und war über sich selbst erschrocken. So geht das auch nicht. Sie malte sich aus, wie es war, wenn Webster alles verdrehte und sie als „Hurerin“ bezeichnete, die versucht hatte, ihn zu verführen.

      Der Großteil der Gefolgschaft hielt nach wie vor fest zu ihm, und möglicherweise genügte Websters Hetzrede, Jessica zur Ketzerin zu erklären, die dann ausgepeitscht, eingesperrt und hingerichtet wurde.

      Sie erschauderte. Nein, sie wollte nicht sterben. Sie schwankte zwischen Wut und Beschämung und wußte immer noch nicht, was sie unternehmen sollte. Eins aber registrierte sie jetzt doch mit Erleichterung: sie war, was das wilde Begehren des Jeremiah Josias Webster betraf, wider Erwarten doch unberührt geblieben. Er hatte sich entfernt, ohne ihr weiter Gewalt anzutun.

      Seltsam. Jessica vermochte sich gerade diesen Umstand nicht zu erklären. Webster war wie von Sinnen gewesen. Und doch – er war verschwunden. Eine unmittelbare Gefahr bestand nicht mehr.

      Wo steckte er jetzt? Irgendwo im Dickicht, um sich über sie lustig zu machen, sie zu täuschen? Nein, auch das konnte sich Jessica nicht vorstellen. Webster mußte gestört worden sein.

      Hatte jemand nach ihm gerufen, war ihm von der Bucht aus jemand gefolgt? Möglich war alles. Demnach konnte der sehr ehrenwerte und selbstlose Großmeister nur zur Burg Zion und zur Burg Jerusalem zurückgegangen sein.

      Wie sollte Jessica Baker auch wissen, was wirklich vorgefallen war? Sie konnte ja nicht ahnen, daß sie nicht nur von Webster, sondern auch noch von anderen Männern beobachtet worden war. Hätte sie es auch nur vermutet, hätte es ihr sofort wieder die Schamesröte ins Gesicht getrieben.

      Ein Kommandotrupp hatte sich von der Landseite her auf die Bucht zubewegt: Jean Ribault, Mel Ferrow, Roger Lutz, Dan O’Flynn, Batuti und der Boston-Mann. Der Seewolf hatte sie ausgewählt – sie sollten Webster gefangennehmen und als Geisel entführen.

      Das hatten die sechs auch geschafft. Als Jeremiah Josias Webster Jessica gepackt hatte und sozusagen auf dem Höhepunkt seiner Gier angelangt war, hatten die Mannen zugeschlagen. Ein Hieb Batutis mit dem Pistolengriff, und der edle Großmeister hatte sich ächzend auf dem Dschungelboden ausgestreckt – neben dem Mädchen, das zu diesem Zeitpunkt ohnmächtig gewesen war.

      Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia, hatte sich Webster lässig über die Schulter geworfen. Der Trupp hatte sich zurückgezogen. Inzwischen hatte er die Goodman Bay wieder erreicht, wo die Schiffe des Bundes der Korsaren vor Anker lagen, und Webster war in die Vorpiek der „Isabella IX.“ gesperrt worden.

      Jessica ahnte von alledem nichts, und so konnte sie auch niemandem berichten, daß der Erhabene entführt worden sei. Sie war nur froh, daß ihr körperlich weiter nichts zugestoßen war. Endlich atmete sie ein wenig auf.

      Was sie tun sollte, wußte sie allerdings immer noch nicht. Es war ihr immer noch zu deutlich vor Augen, was Webster ihr angetan hatte. Der Erhabene war von der Gier besessen gewesen und mehr ein Teufel, denn ein in der Gnade des Herrn stehender Heilsbringer.

      Jessica versuchte, etwas Ordnung in ihre Kleidung zu bringen. Dann begann sie, nach ihrem Korb zu suchen. Sie hatte ihn bei dem Kampf gegen Webster natürlich verloren, und er war irgendwohin in das Gebüsch gerollt. Das Mädchen wollte ihn wiederfinden. Auf keinen Fall gehe ich ohne Korb nicht zurück, dachte sie trotzig.

      Jessica entsann sich: sie hatte von den anderen Frauen andeutungsweise schon mal etwas von der „wilden Fleischeslust“ des Großmeisters gehört. Aber sie hatte nie recht daran geglaubt. Jessica hatte die Lust für unvereinbar mit den sittlichen Geboten des Herrn gehalten, die der Erhabene unentwegt predigte. Wie konnte er denn beides in Einklang bringen, da er doch immer von Zucht und Zurückhaltung sprach?

      Während sie im Gestrüpp nach ihrem Korb forschte, mußte Jessica auch immer wieder an den Seemann denken, an den armen Teufel, den Webster und das „hohe Bordgericht“ einfach an die Rah gehängt hatten.

      Und die „Hurerin“? War sie nicht ein junges Mädchen wie sie, Jessica? Was hatte sie denn schon verbrochen?

      Jessica zuckte zusammen. Sie hatte einen Zweig berührt und glaubte, wieder Websters Hände auf sich zu spüren. Allein der Gedanke brachte sie halb um. Ekel schüttelte sie.

      Sie brauchte sich nur vorzustellen, der Erhabene könnte sich ihr noch einmal nähern und wieder versuchen, sie zu entehren, und ihr wurde fast schlecht.

      Jessica war noch Jungfrau. Bisher hatte sie sich immer an die Regeln der Keuschheit gehalten. Nur der junge Mann, der sie – vielleicht – einmal heiraten würde, würde sie zur Frau machen.

      Endlich entdeckte sie den Korb im Dickicht. Sie bückte sich danach und hob ihn


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