Seewölfe - Piraten der Weltmeere 429. Roy Palmer

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 429 - Roy Palmer


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von Hutten hatte einen Versuch unternommen, sich mit den Indianern zu verständigen, aber sie glaubten ihm nicht, daß es sich bei den Weißen um Freunde handelte. Sie wollten die „verfluchten Fremden“ töten, aushungern oder den Dursttod sterben lassen.

      Ihr Haß schien keine Grenzen zu kennen, und jeder Eindringling, der allein durch seine Anwesenheit ihr Heiligtum schändete, verdiente es, eines grausamen Todes zu sterben.

      In gewisser Weise konnte Hasard sie sogar verstehen. Aber was sollte er unternehmen, wenn sie zu Verhandlungen nicht bereit waren? Vor allem – was würde Ben Brighton tun?

      Früher oder später begriff er, was geschehen war, und dann handelte er, wie sie das vereinbart hatten. Das wiederum würde zu einem Blutbad führen. Ein Massaker aber mußte um jeden Preis verhindert werden.

      So stand der Seewolf im doppelten Sinn auf Stützen: Er konnte seine Kameraden und sich nicht aus dieser aussichtslosen Lage befreien, und er konnte sich auch mit Ben Brighton und den anderen an Bord der „Esperanza“ nicht verständigen.

      Hasard sah eine geringe Chance darin, jede Ecke und jeden Winkel des Grabhügels zu untersuchen. Vielleicht gab es einen zweiten Aus- beziehungsweise Eingang? Das ovale Loch wies nach Westen. Daraus ergab sich die Annahme, daß möglicherweise ein östlicher Durchschlupf existierte.

      Jean Ribault hatte Hasards Order befolgt und bereits einen ersten Erkundungsversuch unternommen, der keinen Erfolg gebracht hatte, aber er resignierte noch nicht. Gleich würde er sich wieder auf den Weg begeben, quer durch die Höhle, in Staub und Schmutz und völliger Dunkelheit.

      Karl von Hutten hatte inzwischen bestätigt, daß die Vermutung, es gebe einen zweiten Ausgang, richtig sein könne. Die Chimús glaubten, sie seien göttlichen Ursprungs. Ihr Gründer Naymlap sollte vom Meer her erschienen sein, und zwar von Westen. Bei seinem Tode sollte er sich mit Flügeln nach Osten in die Lüfte erhoben haben und im Himmel verschwunden sein.

      Hasard spähte ins Freie und versuchte, etwas zu erkennen. Aber der Gegner hielt sich, perfekt getarnt, im Dickicht versteckt, kein Kopf war zu sehen, keine Schulter, keine Hand. Die Chimús waren ihnen gewiß zahlenmäßig überlegen, und sie hatten, weil sie das Gelände kannten, alle Trümpfe in der Hand.

      Jean Ribault hatte etwas aus dem Proviantsack gegessen, den sie mitgenommen hatten. Jetzt zog er wieder los, um die Grabstätte zu durchsuchen.

      Pater David kümmerte sich noch einmal um Smokys Kopfverletzung und Fred Finleys Schulterwunde. Die Blutungen hatten aufgehört, aber Schmerzen hatten beide noch.

      Es wurde wärmer. Der Inseldschungel war zu seinem lärmenden Leben erwacht. Vögel zeterten, Äffchen kreischten, und aus den Sarsaparilla-Büschen ertönte das Zirpen von Zikaden.

      Es war der Vormittag des 26. Oktober 1594 – ein Tag, der noch jede Menge Überraschungen bereithielt.

      Unausgesetzt lauerte Hasard am Eingang der Grabstätte. Er hatte die Felsplatte so weit um ihre Mittelachse geschoben, daß kein Pfeil hindurchpaßte. Durch den seitlichen Spalt hatte er zwar nur ein begrenztes Blickfeld, aber für seine Beobachtungen reichte es vorläufig aus.

      In dem Verhau rings um die Grabstätte rührte sich nach wie vor nichts, und im Bereich des Sichtfeldes zeigte sich niemand. Die Annahme Philip juniors, die Indianer könnten die Belagerung aufgehoben haben, war demzufolge berechtigt. Aber Hasard und die anderen Männer wußten es besser, sie kannten die Gepflogenheiten der Indianer nur zu gut. Sie waren zäh und verfügten über große Ausdauer und Geduld.

      Die Chimús waren da. Hasard unternahm einen vorsichtigen Versuch, die Felsplatte etwas weiter zu öffnen. Da geschah es auch schon. Surrende Geräusche waren zu vernehmen, und wieder flogen die Pfeile heran. Sie prallten am Gestein ab und fielen zu Boden.

      „Beim Henker“, sagte Carberry. „Das geht mir auf den Geist.“

      „Ich habe auch die Schnauze voll“, sagte Matt Davies. „Und weißt du, was ich mache? Ich helfe Jean beim Suchen.“

      Karl von Hutten war bereits hinter Ribault hergekrochen. Pater David setzte sich ebenfalls in Bewegung, gefolgt von den Zwillingen. Herumsitzen hatte keinen Zweck – man mußte etwas unternehmen. Matt und der Profos tasteten sich in eine der Grabkammern vor und schoben sich an den Wänden entlang.

      Carberry stolperte dabei prompt über ein Gerippe, das klappernd in sich zusammenfiel.

      „Hölle und Teufel!“ wetterte er. „Kann man hier denn nicht mal ein Licht anzünden?“

      „Wir müssen damit haushalten!“ rief Karl von Hutten aus der Nachbarkammer. „Das weißt du doch, Ed! Wir müssen alles einteilen, auch den Proviant. Wir wissen ja nicht, wie lange wir hier noch festsitzen!“

      „Ist doch klar“, sagte der Profos wütend. „Aber hier liegen mir zu viele Knochenmänner rum.“

      Er arbeitete sich weiter, verharrte, bückte sich und tastete eine kleine Felsnase ab. Was war das? Ein Hebel für eine Geheimtür? Nein, er hatte sich geirrt.

      Er richtete sich wieder auf – und knallte mit dem Schädel gegen Matts Kopf, der sich in der Zwischenzeit an der Wand entlang zu ihm gepirscht hatte.

      „Aua!“ brüllte Carberry, daß die Felsen wackelten. „Kannst du nicht aufpassen, du blöder Hirsch?“

      Draußen prasselten wieder Pfeile gegen das Oval. Vielleicht hatten die Chimús das Gebrüll als den Beginn eines Ausbruchsversuches gewertet – oder sie hatten sich einfach nur erschrocken.

      „Ed“, sagte Hasard. „Hör mit dem Geschrei auf. Du machst die Indianer verrückt.“

      „Was? Ja, hoffentlich drehen sie durch. Dann reißen sie vielleicht aus.“

      „Mister Carberry, Sir“, sagte Matt. „Es tut mir leid, daß wir zusammengerasselt sind, aber das war nicht meine Schuld.“

      Carberry stemmte die Fäuste in die Seiten. „Hör mal zu, Mister Davies, du Salzhering. Noch so ein Wort, und ich jage dich zu den Wilden raus, die dir mit ihren Pfeilen eine zusätzliche Furche ziehen. Kapiert?“

      „Aye, Sir.“

      „Eins ist mal sicher“, sagte der Profos. „Einen zweiten Ausgang gibt es hier nicht. Wäre ja auch gelacht. Sonst würden die Knochenkerle womöglich noch weglaufen.“

      „Glaubst du das wirklich?“ fragte Matt.

      „Daß sie zum Leben erwachen könnten? Hölle, wenn ich daran denke, was wir an dem verfluchten Nil mit den eingewickelten Leichen erlebt haben …“

      „He!“ rief Smoky, der alles verstanden hatte. „Wir sind aber auch dort keinen lebendigen Toten begegnet! Die gibt es nämlich gar nicht! Die existieren bloß in der Phantasie eines gewissen Old Donegal Daniel O’Flynn, der aber zum Glück diesmal nicht unter uns weilt.“

      „Ihr wollt euch wohl alle mit mir anlegen, was?“ fragte Carberry angriffslustig.

      „Nein“, sagte Matt. „Ich meinte auch was anderes. Ob du glaubst, daß es keinen zweiten Ausgang gibt.“

      „Ich glaube nur, was ich sehe.“

      „Aber Karl hat gesagt, daß sich der Ausgang nur auf der Ostseite des Grabhügels befinden kann.“

      „Und? Hast du vielleicht einen Kompaß dabei?“

      „Nein, aber …“

      „Hör auf zu quatschen“, sagte der Profos barsch. „Das führt zu nichts. Los, suchen wir weiter.“

      Das taten auch die anderen, aber es war Jean Ribault, der schließlich fündig wurde. In dem muffigen Dunkel hatte er eine gedachte Linie vom Westeingang nach Osten gezogen – und jetzt stieß er auf einen Gang, dessen Ende genauso mit einer ovalen Felsplatte verschlossen war wie der Westeingang.

      „Donnerwetter!“ murmelte er. „So eine Überraschung.“

      Mit beiden Händen tastete er die Platte ab und stellte fest, daß auch sie oben und


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