Seewölfe - Piraten der Weltmeere 634. Jan J. Moreno
Da in dem Moment jedoch die Tür zum Kontor aufgestoßen wurde, unterbrach er sich jäh.
Auch Philip Hasard Killigrew musterte die bucklige Alte, die suchend um sich blickte.
„Wer hat Sie eingelassen?“ fragte Arne von Manteuffel.
„Hä?“
„Wollen Sie zu mir?“
„Wo ist ein Bier?“ Die Alte mußte auf dem einen Ohr taub und auf dem anderen schwerhörig sein. Außerdem lispelte sie derart, daß die Vettern sich anstrengen mußten, sie zu verstehen.
Ihr Alter war unmöglich zu schätzen, schon deshalb, weil ihr Gesicht hinter einem schwarzen Schleier verborgen lag. Aschgraues Haar hing ihr bis tief in die Stirn und war im Nacken zu einem Knoten geschlungen.
„Dies ist ein Handelshaus, Señora“, sagte Arne. „Sie haben sich offenbar in der Adresse geirrt.“
Die Alte stützte sich auf einen gedrechselten Stock. Unvermittelt schlug sie damit auf den ihr am nächsten stehenden gepolsterten Sessel.
„Nennen Sie mich gefälligst Señorita!“ keifte sie. „Ist das ein Benehmen einer Jungfrau gegenüber?“
Arne stand da wie vom Donner gerührt, während Hasard zu grinsen begann. Hinter der „Señorita“ erschien jetzt der Sekretär Jörgen Bruhn, er traf jedoch keinerlei Anstalten, sie aus dem Haus zu bugsieren.
„Sie verkennen die Situation, Señor de Manteuffel“, sagte die Frau lispelnd. „Natürlich sind Sie an einem Geschäft mit mir interessiert, Sie wissen es nur noch nicht. Wie viele Goldstücke bieten Sie, damit die Spanier nicht erfahren, daß Seewölfe in Ihren Mauern wohnen?“
Arne schnappte nach Luft, während Hasards Grinsen einzufrieren schien. Zugleich löste die „Señorita“ ihren Schleier.
Der Deutsche stöhnte verhalten. „Ich habe es geahnt“, sagte er. „Trotzdem war ich mir nicht sicher.“
Es mag durchaus Jungfrauen von männlicher Statur geben, aber bestimmt keine mit sichelförmigem Schnauzbart. Jussuf, der aus Beirut stammende Türke, der seit langem zum Handelshaus von Manteuffel gehörte, grinste breit. Mit einer blitzschnellen Bewegung fischte er ein kleines Leinensäckchen aus seinem Mund hervor, das dazu gedient hatte, seiner Stimme den lispelnden Klang zu geben.
„Die Feuerprobe ist bestanden“, sagte er. „Nachdem selbst der Meister mich nicht erkannt hat, darf ich mich bedenkenlos unters Volk mischen.“
Jussuf war schon immer ideenreich, wendig und äußerst geschickt vorgegangen. Besonders in schlechten Zeiten schaute er den Leuten aufs Maul, denn im allgemeinen lebte der am längsten, der am besten informiert war. Das galt für Havanna noch mehr als für andere Orte in der Karibik.
„Warum die ungewöhnliche Verkleidung?“ fragte Arne. „Willst du dich der Stadtwache anbiedern?“
Jussuf spuckte in den kupfernen Napf neben dem Schreibpult. Aufreizend langsam wischte er sich mit dem Handrücken über die Lippen.
„Diese Hurenböcke sind keineswegs der richtige Umgang für eine Lady wie mich“, sagte er. „Mir steht der Sinn eher nach der Mätresse des Gouverneurs.“
„Jorge Martinez hat es vorgezogen, Kuba den Rücken zu kehren“, sagte Arne von Manteuffel. „Ich gehe davon aus, daß ihn Doña Maria de Pasajes begleitet.“
Jussuf zwirbelte die Enden seines Schnauzbarts. „Eben nicht“, erklärte er. „Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, daß sich Doña Maria eine Zeitlang im Innern der Insel aufhielt. Sie dürfte von den umwälzenden Ereignissen nichts mitgekriegt haben.“
„Señora de Pasajes gilt als unnahbar“, erinnerte Arne. „Du wirst wenig Erfolg habe, Jussuf. Außerdem verstehe ich nicht, warum du das Risiko eingehen willst, ausgerechnet ihr auf den Zahn zu fühlen. Wegen ihr wurden schon genug Männer in Eisen gelegt.“
Der stämmige Türke zuckte mit den Schultern. Die Geste sollte entschuldigend wirken, drückte aber zugleich aus, daß er entschlossen war, sich keinesfalls von seinem Vorhaben abbringen zu lassen.
„Wissen ist Macht“, sagte er. „Gerade in Zeiten wie diesen. Schon im Koran, in der Sure Zwanzig, steht geschrieben: Und sag: Herr, laß mich an Wissen zunehmen.“
„Laß meine Neugierde aber nicht zu groß werden, daß ich deshalb den Kopf verliere“, spottete Jörgen Bruhn.
„Ungläubiger!“ zischte Jussuf.
Doña Maria de Pasajes war alles andere als furchtsam. In ihrem bewegten Leben hatte sie ziemlich alle Höhen und Tiefen ausgekostet und dabei gelernt, daß sie sich nur auf einen einzigen Menschen verlassen durfte, nämlich auf sich selbst. Als der Kutscher abstieg, griff sie nach der einschüssigen Steinschloßpistole, die sie stets bei sich führte, und spannte den Hahn.
Vergeblich versuchte Doña Maria zu erkennen, was sich vor dem Gespann abspielte. In dem Moment krachte der Schuß. Die Pferde wieherten erschreckt, scheuten und galoppierten los. Maria de Pasajes wurde quer durch den engen Innenraum der Kutsche geschleudert und krachte unsanft gegen die Rückwand. Die Pistole fiel auf das Sitzpolster und von da zu Boden. Zum Glück ging sie nicht los.
Gleich darauf verlangsamte sich die höllische Fahrt über Stock und Stein wieder. Doña Maria glaubte eine Stimme zu hören, die beruhigend auf die Tiere einredete. Eine Verwünschung auf den Lippen, bückte sie sich nach der Waffe, und noch ehe sie Zeit fand, Kleid und Haare zu richten, hielt die Kutsche erneut an.
Wütend stieß die Frau die Tür auf und sprang nach draußen.
„Pedro, du Trottel!“ rief sie. „Wenn du nicht mehr fähig bist, die Pferde im Zaum zu …“
Sie verstummte, denn der Kutschbock war verwaist, die Zügel schleiften lose unter der Deichsel. In der Mähne eines der Pferde hatte sich eine Frau verkrallt, sie hing halb auf dem Rücken des Tieres und zerrte am Zaumzeug. Ihr war es offensichtlich zu verdanken, daß die Kutsche nicht zwischen den Bäumen oder am Fuß des nächsten Abhangs zerschellte.
Doña Maria verspürte Dankbarkeit. Doch als die Fremde absprang und sich ihr zuwandte, wurde erst Überraschung und dann Zorn daraus. Dieses ebenmäßige Gesicht mit den vollen, sinnlichen Lippen, den hohen Wangenknochen und den leuchtenden Augen, das von leicht lockigem, braunem Haar eingerahmt wurde, kannte sie. Doña Maria hatte diese Frau in Havanna wiederholt in ihrer Nähe bemerkt. Das abermalige Zusammentreffen konnte kein Zufall sein.
„Keinen Schritt weiter!“ warnte sie. „Es würde mir leichtfallen, Sie niederzuschießen.“
„Ich weiß.“ Die Fremde lächelte überlegen, beinahe so, als gäbe es die Waffe nicht, deren Mündung auf ihren Bauch zielte. Dabei war es auf die Entfernung von nur sechs oder sieben Schritten nahezu unmöglich, vorbeizuschießen.
„Was soll das?“ fragte Maria de Pasajes scharf. „Warum verfolgen Sie mich?“
Sekundenlang wirkte die Fremde überrascht. Offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, erkannt zu werden.
„Sie sind eine reiche Frau, Doña“, sagte sie dann. „Mir erscheint es nur gerecht, wenn Sie von Ihren Schätzen einen Teil abtreten. Den größeren Teil, um genau zu sein.“
„Pulver und Blei kannst du haben!“
Zu spät fragte sich Maria de Pasajes, warum die Fremde keine Furcht zeigte. Einfach aus dem Grund, weil sie nicht allein war. Selten genug verließen sich Schnapphähne und Wegelagerer ihres Kalibers nur auf sich selbst. Bei männlichen Opfern mochte das Aussehen der Frau ihre beste Waffe sein, aber Doña Maria hätte dafür nicht einen vertrockneten Pfifferling gezahlt.
Sie fuhr herum, als sie das Rascheln hinter sich vernahm, reagierte aber zu langsam, um dem kraftvollen Hieb noch auszuweichen. Ein Pistolenlauf krachte gegen ihre Schläfe, sie hatte das Gefühl, als würde sich jäh der Boden unter ihren Füßen auftun. Sie stürzte in einen endlosen düsteren Schacht.
Irgendwann verlangsamte sich die Bewegung. Fest zupackende