Seewölfe - Piraten der Weltmeere 13. John Curtis
beeilen, können wir durch eins der beiden Tore entwischen. Und die Dons werden platzen vor Wut!“
Er lief los, Ben Brighton raste hinterher.
„Durch eins der Tore?“ keuchte er. „Mann, du bist verrückt, Sir, das klappt nie, die Dons werden uns …“
Er kam nicht weiter, denn das Tor war bereits in Sicht, und Hasard Killigrew stürmte schnurstracks darauf los. Wohl oder übel mußte Ben Brighton ihm folgen.
Ein Soldat trat ihnen entgegen, aber Hasard ließ ihm gar keine Zeit zum Überlegen. Er hatte keine Ahnung, wie viele Soldaten sich außer ihm noch als Wache beim Tor befinden mochten, deshalb riskierte er es auch nicht, den Mann niederzuschlagen und sich selbst das Tor zu öffnen.
„Rasch, das Tor auf, die anderen sind dicht hinter mir. Diese englischen Bastarde haben zwei von uns erstochen und sind dann über die Mauer getürmt. Los, beeil dich, die Kerle sollen uns nicht entwischen!“
Und damit griff er sich auch schon die geladene Muskete des verdutzten Soldaten, der, ohne zu fragen, den schweren Riegel zurückschob und dann zusammen mit Hasard und Ben Brighton die schweren Torflügel aufwuchtete.
Noch im Hinauslaufen drehte Hasard sich zu dem Torwächter um.
„Sag den anderen, daß sie nach links laufen sollen. Wir beide suchen die Stadtmauer und den Hafen auf der rechten Seite ab!“
Damit eilte er durch das Tor, gefolgt von Ben. Im Nu hatten sie den Hafen erreicht und wandten sich aber sofort statt nach rechts nach links. Denn der Schwindel mußte schon sehr bald offenkundig werden, und dann würden die Soldaten bestimmt zunächst nach rechts laufen, um ihn und Ben dort zu suchen.
Hasard und Ben gönnten sich keine Ruhe, ehe sie die Stadtmauer nicht weit hinter sich gelassen hatten. Erst ein wüstes Gebrüll, donnernde Schüsse und spanische Flüche, die von ferne an ihre Ohren drangen, ließen sie stehenbleiben.
Der Seewolf und sein Bootsmann schlugen sich vor Vergnügen auf die Schenkel, während sie gleichzeitig nach Luft rangen und lachten.
„O Lord – wie wird dieser verdammte Bastard von Burton toben, wenn er von diesem neuen Streich des Seewolfs hört!“ gluckste Ben Brighton. „Wie schade, daß ich nicht dabeisein und ihm ordentlich was aufs Maul geben kann!“
Als sie etwas zu Atem gekommen waren, liefen sie weiter. Die Stadt Sevilla blieb hinter ihnen zurück. Eine Stunde später zogen sie die Uniformen, die sie lediglich über ihre eigene Kleidung gestreift hatten, wieder aus. Sorgfältig verbargen sie die Sachen unter einem dichten Busch. Dann marschierten sie weiter. Die schwere Muskete warf Hasard kurzerhand in einen Wassergraben, den sie übersprangen.
Sie bewegten sich nun am Guadalquivir entlang nach Südwesten. Etliche Stunden später näherten sie sich dem Fischerdorf Coria. Sie wagten sich jedoch nicht an das Dorf heran, sondern krochen unter eins der an Land gezogenen Fischerboote. Sie waren zu erschöpft, um noch einen Wachtörn einzurichten. Es mußte schon mit dem Teufel zugehen, wenn sie jemand unter diesem Boot entdeckte, bevor sie wieder aufgewacht waren.
Der Seewolf und sein Bootsmann schliefen im Handumdrehen ein. Als sie schließlich wieder erwachten, war es bereits hell um sie. Aber dennoch war das Erwachen völlig anders, als sie sich das vorgestellt hatten.
Der alte Enrico – so jedenfalls nannten ihn die Bewohner des Dorfes Coria, obwohl er keineswegs ein alter Mann war – ging zum Strand hinunter. Sein weißes Haar und sein weißer Bart bildeten einen lebhaften Kontrast zu seiner runzligen, braungebrannten Haut.
Hin und wieder blieb er stehen und hob schnuppernd die Nase in die leichte Brise. Dabei warf er jedesmal einen Blick in den strahlendblauen Himmel, an dem nur hin und wieder ein paar weiße Kumuluswolken entlangsegelten.
Enrico kannte dieses Wetter. Immer wenn der Wind aus dem Landesinnern zur Küste hin aufbriste, dann stand in den nächsten Tagen eine Wetteränderung bevor. Zugleich waren aber auch diese Tage am günstigsten zum Fischen. Die Sardinen zogen dann in Schwärmen in der Mündung des Guadalquivir herum. Volle Netze und guter Verdienst auf den Märkten von San Lucar waren stets die Folge.
Enrico murmelte eine Verwünschung vor sich hin. Für einen Moment schlossen sich seine Augen. Er hatte keinen Partner mehr, er mußte allein fischen, seit dieser verdammten Sache. Die Leute mieden ihn, denn sie hatten Angst, mit den spanischen Soldaten oder der spanischen Polizei aneinander zu geraten, wenn sie ihm halfen.
Enricos Gesicht war noch runzliger geworden. Aber es zeigte nichts von Resignation, im Gegenteil, um seinen Mund lag ein Zug, der Zorn und wilde Entschlossenheit ausdrückte.
Es ging ihm nicht gut, aber er brauchte auch nicht viel. Fürs Leben reichte es, der Rest war ihm im Moment ziemlich gleichgültig.
Langsam ging er weiter. Sein Boot hatte ein paar Reparaturen nötig, dieser Tag war wie geschaffen dafür. Morgen würde er fischen und danach zum Wochenmarkt nach San Lucar segeln. Er dachte flüchtig daran, daß er sich auch noch sein Schleppnetz vornehmen müsse. Es war beim letztenmal in einem Anker hängengeblieben, den irgendeins der spanischen Schiffe im Fluß verloren haben mußte.
Enrico seufzte. Für einen einzelnen Mann verdammt viel Arbeit, das alles. Doch dann hob er die Schultern – er würde sehen. Manchmal ging alles viel besser, als es zunächst den Anschein hatte.
Er näherte sich dem Guadalquivir. Das Ufer war an dieser Stelle nicht bewachsen, sondern wies einen breiten Sandstreifen auf, der sich am Strom entlangzog. Schon von weitem erkannte Enrico sein Boot, das mit dem Kiel nach oben auf dem Strand lag.
Wieder blieb er für einen Moment stehen. Er hatte an diesem Tage länger geschlafen. Und noch immer brummte ihm der Schädel, denn in der vergangenen Nacht in Sevilla war es hoch hergegangen. Wein – ein Mädchen, von Zeit zu Zeit leistete sich Enrico diesen Luxus. Und dann jener Zwischenfall im „Fisch“. Die Soldaten, die beiden Fremden, die dort gesucht worden waren. Dann der Aufruhr in der Calle del Dos de Mayo und der anschließende Riesenspektakel an einem der beiden zum Hafen gelegenen Stadttore.
Enrico lachte bei der Erinnerung daran leise in sich hinein. Die spanischen Soldaten hatten dagestanden wie begossene Pudel. Ein Capitan und ein anderer Kerl, den er wohl zuvor im „Fisch“ gesehen hatte, dem er aber noch nie zuvor in Sevilla begegnet war, hatten geschrien und getobt. Dieser widerliche feiste Kerl, der schon den Wirt vom „Fisch“ zu Boden geschlagen hatte, hatte sich aufgeführt wie ein Wahnsinniger. Und die umstehenden Spanier, Zeugen dieses Schauspiels, hatten lauthals gelacht, bis sie von den Soldaten mit Kolbenstößen davongejagt worden waren.
Enrico wußte auch jetzt noch nicht, warum diese beiden Fremden gesucht wurden. Er wußte aber eins: Diese Fremden mußten außergewöhnlich kühne Burschen sein. Denn dieses Stückchen, das sie sich mit den Spaniern geleistet hatten, war einfach einmalig, solange er, Enrico, überhaupt zurückdenken konnte.
Enrico lachte immer noch, als er weiterging. Das war wirklich eine tolle Nacht gewesen, und diesen verfluchten Soldaten gönnte er die Schlappe von Herzen. Mehr noch, er wünschte ihnen die Pest und alles mögliche andere an den Hals.
Er näherte sich seinem Boot – und dann blieb er an diesem Morgen zum drittenmal stehen. Deutlich zeichneten sich die Fußspuren zweier Männer ab, die am Strand entlang zu seinem Boot führten und dort endeten.
Enrico faßte einen Belegnagel, den er fast immer bei sich trug, fester. Zwar hatte er nichts dagegen, wenn Leute unter seinem Boot die Nacht verbrachten. Aber die Zeiten waren unsicher, viel Gelichter und Strolche aller Art trieben sich neuerdings in der Umgebung größerer Städte herum. Da galt es, auf der Hut zu sein.
Vorsichtig ging er auf das Boot zu. Doch so sehr er auch horchte, er hörte nichts. Kein Schnarchen, keine Atemzüge.
Enrico grinste. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Die Burschen da unter seinem Boot mußten schon einen gesunden Schlaf haben. Sie hatten Glück, daß das Boot zu dieser Stunde noch im Schatten eines Olivenbaums lag, sonst hätte die Sonne ihnen schon ganz schön eingeheizt.
„Nun gut, ich werde die Kerle mal wecken“, murmelte Enrico und trat an das Boot heran.