Seewölfe Paket 10. Roy Palmer
gut dreihundert Yards hohe, fast senkrechte Mauer zu überwinden, die aus einem einzigen Felsblock bestand.
„Sieht ziemlich finster aus“, bemerkte Dan. „Auf dem Weg können wir nicht weiter, denn die Wand erklimmen wir nie. Versuchen wir, nach rechts zu gehen.“
Hasard hatte sich das Inselinnere längst nicht so gewaltig vorgestellt. Von See her hatte es nach ein paar Hügeln und kleinen Bergen ausgesehen, aber jetzt wandelte sich das Bild gründlich.
Rechts ging es weiter, aber man sah den Pfad noch nicht, der immer wieder aufhörte und über Stock und Stein ging.
Bei ihrer Suche war ihnen gar nicht aufgefallen, daß die Wand aus Wolken sich inzwischen rasch genähert hatte. Höhenwinde jagten sie vor sich her und trieben sie über die Insel. Es ging blitzschnell.
Über den Bergen entlud sie sich.
Sie fanden gerade noch Zeit, unter ein ziemlich dichtes Blätterdach eines großen Baumes zu schlüpfen, da ging es los.
Ein Wolkenbruch prasselte vom Himmel, und Ströme von Wasser ergossen sich schwallartig. Die Luft wurde so feuchtwarm, daß das Atmen schwerfiel.
Die Wolke wanderte weiter, regnete in südlicher Richtung noch einmal ab und kehrte dann wieder übers Meer in die gleiche Richtung zurück.
Der Regenwald begann zu dampfen und zu brodeln. Überall stiegen aus dem warmen Boden Dämpfe auf, tanzten wie Nebelgeister über der Landschaft und strebten zum Himmel.
Der Boden war schlüpfrig geworden. Moosbewachsene Steine behinderten das Weitergehen. Immer wieder rutschte einer von ihnen aus.
„Fast wie am Amazonas“, sagte Dan fluchend, als er gerade noch einen Ast zu fassen kriegte.
Der Landschaftscharakter begann sich wieder zu verändern. Alles wurde dichter, bewachsener. Sträucher und niedere Pflanzen bedeckten dampfenden Boden mitunter hüfthoch. Dann folgten Bananenwälder, so dicht, daß man kaum noch weiterkam.
Hasard pflückte ein paar Früchte.
„Glaubst du, sie sind eßbar?“ fragte Siri-Tong. „Sie sehen anders aus als die gewöhnlichen Bananen.“
„Ganz sicher sind sie eßbar, nur wesentlich kleiner.“
Hasard probierte die Frucht. Sie war nicht viel größer als ein Finger, aber sie schmeckte ungemein süß.
Auch die Korsarin und Dan probierten und fanden sie vorzüglich.
Nach dem überraschenden Schauer breitete sich wieder Ruhe aus.
Tiere gab es kaum zu sehen, ab und zu flog eine Schwalbe vorbei, oder eine Ente flog von irgendwoher auf.
Noch einmal sahen sie zwei der kleinen bunten Papageien, die entsetzlich krächzten, ehe sie wegflogen.
Der tropische Hochwald wurde immer dichter. Nach einer Weile schlug Hasard eine Rast vor.
„Es wird immer aussichtsloser, die Insulaner zu finden“, sagte er. „Ich habe mir das Landesinnere dieser Insel wesentlich anders vorgestellt. Wir können noch tage- oder wochenlang so weiterlaufen, ohne daß wir eine Menschenseele zu Gesicht kriegen.“
Donegal Daniel O’Flynn ließ sich auf einem bemoosten Stein nieder. Schweiß rann ihm vom Gesicht. Sein Leinenhemd war so naß, daß er es auswringen konnte.
Er reckte die Schultern, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und wollte etwas sagen, als sein Blick plötzlich starr wurde.
„Was ist?“ fragte die Rote Korsarin und blickte ebenfalls in die Richtung.
„Da vorn, wo das kleine Plateau ist, stehen Hütten, wenn mich meine Augen nicht täuschen“, sagte Dan. „Kleine Hütten, mit Palmblättern gedeckt.“
Hasard blickte sich um.
Vor ihnen lag immer noch der Wald aus Bananenstauden, dahinter standen hohe Bäume, dann gab es eine kleine Lichtung vor einem Berg.
Und da standen tatsächlich ein paar kleine Hütten. Man mußte aber schon sehr genau hinsehen, wollte man sie erkennen.
In der Nähe der Hütten war allerdings keine Menschenseele zu erblikken. Sie schienen verlassen zu sein.
4.
„Wir werden versuchen, die Hütten unentdeckt zu erreichen“, sagte der Seewolf. „Obwohl ich das für fast ausgeschlossen halte, denn ich habe das Gefühl, als hätte man uns längst gesehen. Aber wir kennen die Insulaner nicht, wissen nichts von ihnen, und es ist besser, wenn die Überraschung auf unserer Seite bleibt.“
„Das wird wirklich nicht leicht sein, Sir. Hier raschelt es doch an allen Ekken, sobald wir uns bewegen.“
„Versuchen wir es trotzdem.“
Vorsichtig bewegten sie sich weiter. Der Pfad hatte längst aufgehört zu existieren, und es sah auch nicht so aus, als wären hier jemals Menschen entlanggegangen. Es gab keine abgerissenen oder zertretenen Blätter, nichts, was darauf hindeutete.
Zwischen den Bananen lagen ab und zu riesige Felsblöcke. In deren Schutz gelang es ihnen, bis auf fast hundert Yards an die Hütten heranzuschleichen.
Dan legte den Finger auf die Lippen.
„Dort vorn sind Leute“, wisperte er, „ich höre Stimmen.“
Hasard ging ein paar Yards weiter um einen Felsblock herum, und dann verschlug es ihm glatt die Sprache. Er deutete mit der Hand auf den freien Platz vor den Hütten.
Auf der Lichtung knieten vier Insulaner, voller Angst, wie es den Anschein hatte.
Vor ihnen stand ein Weißer, etwas weiter rechts noch mal einer, der grinsend auf die Insulaner blickte.
Der eine Weiße, es konnte sich nur um einen Spanier handeln, hielt in der rechten Hand eine hölzerne Maske hoch. Sie ähnelte derjenigen, die sie gerade eben erst gesehen hatten. Genau die schrecklich verzerrten Züge, die leuchtenden Augen und die heraushängende Zunge.
Offensichtlich war die Maske von dem Sockel herabgerissen worden, und jetzt flößte der Spanier den Insulanern damit Angst ein.
„Die zwei sind von der ‚Kap Hoorn‘“, sagte Hasard. „Gar kein Zweifel, sie sind in die Berge getürmt.“
„Aber was bezwecken sie damit?“ fragte Dan.
Der Seewolf zuckte mit den Schultern.
„Sie haben Angst vor den Insulanern, die sie vielleicht gestellt hatten. Dann rissen sie die Dämonenmaske von einer Statue, und jetzt ist es genau umgekehrt, jetzt haben die Insulaner Angst.“
„Holen wir uns die Affenärsche?“ fragte Dan gepreßt.
„Aber sicher. Sonst schwingen die Dons sich hier noch zu Herren auf, wenn sie merken, daß die Insulaner vor ihren eigenen Götzen soviel Angst haben. Du von der rechten Seite, ich von der linken. Siri-Tong kann uns folgen, falls einer der Kerle entwischt.“
Immer noch knieten die Insulaner, hatten die Hände über den Kopf gelegt und stießen leise Schreie aus.
Der Spanier tänzelte mit der Maske in der Hand herum, hielt sie ihnen mal dicht vor die Gesichter, entfernte sich dann wieder.
Hasard vermied, so gut es ging, jedes Geräusch. Auch Dan arbeitete sich ziemlich lautlos weiter. Die Rote Korsarin nahm den geraden Weg.
Erst die letzten paar Yards begann der Seewolf zu laufen. Er und Dan langten fast gleichzeitig an.
Der Spanier mit der Maske fuhr herum, rief seinem Kumpan eine Warnung zu und griff zu seinem Messer am Gürtel. Gleichzeitig schleuderte er Hasard die Maske ins Gesicht.
Dan O’Flynn stürmte auf den anderen zu, aber der drehte ab und raste davon. Dan folgte ihm schnell, aber dann stoppte er jäh, denn hinter den Basaltblöcken am Rand des Bananenhains gähnte ein tiefer Abgrund.
Der