Seewölfe - Piraten der Weltmeere 104. Kelly Kevin

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 104 - Kelly Kevin


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      Der Pirat hörte nichts.

      Er schien mit offenen Augen zu träumen.

      Dan holte aus, nahm Maß – und hieb dem Einäugigen den Belegnagel auf den Schädel.

      Es klang hohl, fand Dan. Auf jeden Fall ziemlich leise, genau wie das gedämpfte Röcheln, das der Einäugige noch hervorbrachte. Rasch fing Dan den stürzenden Körper auf und ließ ihn vorsichtig auf die Planken gleiten.

      Batuti hatte sich umgedreht.

      Das Weiß seiner Augäpfel schimmerte, und die prächtigen Zähne blitzten im Dunkeln, als er die Lippen zu einem breiten Grinsen verzog. Lautlos huschte Dan zu ihm hinüber. Kein Wort fiel. Irgendwie hatte es der hünenhafte Neger bereits geschafft, eine Leine auszubringen. Dan nickte ihm zu, schwang sich geschmeidig über das Schanzkleid und hangelte sich Hand über Hand nach unten.

      Behutsam ließ er sich ins Wasser gleiten, schwamm ein Stück zur Seite und legte den Kopf in den Nacken.

      Batutis Hünengestalt erschien über dem Schanzkleid.

      Auch er hangelte sich an der Leine nach unten und glitt vorsichtig ins Wasser. Mit dem Daumen wies er zur Küste. Dans blaue Augen funkelten. Er nickte und wollte sich von der Bordwand lösen. Im nächsten Moment erstarrte er.

      Jäh wurde es über ihnen an Deck lebendig.

      Schritte polterten. Jemand stürmte hastig aus dem Vorschiff. Und dann dröhnte bereits die Donnerstimme des bulligen Barbusse, der eigentlich auf Dan hatte aufpassen sollen.

      „Vermaledeiter Bengel!“ brüllte er. „Dieser Giftzwerg ist getürmt, aus dem Logis verschwunden! Verdammt, wo steckt diese Wanze?“

      Dan und Batuti wechselten einen raschen Blick.

      „Wegtauchen“, flüsterte Dan O’Flynn.

      Batuti nickte nur, weil er wußte, daß sie so oder so keine andere Wahl hatten.

      Düster und majestätisch glitt der „Eilige Drache über den Wassern“ nach Norden.

      Der stetige Ostwind blähte die schwarzen Segel an den vier Masten. Das Schiff verschmolz fast mit der Dunkelheit. Jetzt, im fahlen Mondlicht, bot es einen unheimlichen Anblick – ein großer, stolzer Segler, gegen den sich die Karavelle, die in seinem Kielwasser segelte, fast wie ein Zwerg ausnahm.

      Ein gefährlicher Zwerg allerdings. Und ein Zwerg, der von einer Mannschaft gefahren wurde, die das seemännische Handwerk im Schlaf beherrschte. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, hatte jeden Fetzen Tuch gesetzt, den die drei Masten der „Santa Monica“ zu tragen vermochten.

      Die Karavelle war rank und wendig gebaut, leicht auf Kosten der Armierung: drei Geschütze auf jeder Seite, Vierpfünder mit gegossenen Bronzerohren, außerdem je zwei Serpentinen in drehbaren Gabellafetten an Bug und Heck. Verglichen mit der Bewaffnung des schwarzen Seglers war das lächerlich. Aber dafür war die „Santa Monica“ schnell, konnte das Tempo des „Eiligen Drachen“ mithalten, und nichts anderes zählte im Augenblick für die Seewölfe.

      Sie waren auf der Jagd, auf der Jagd nach ihrem eigenen Schiff, der „Isabella“, das ihnen eine Bande von Südsee-Piraten abgejagt hatte. Und auf der Jagd, um Dan O’Flynn und Batuti zu befreien, die sich in der Gewalt der Piraten befanden.

      Jean Morro hieß der Anführer der Horde. Ein gefährlicher Mann, wie Hasard sich eingestehen mußte. Und dennoch würde er gegen die Verfolger keine Chance haben.

      Mit zusammengepreßten Lippen stand der Seewolf auf dem Achterkastell und starrte in die Dunkelheit.

      Der Verlust der „Isabella“ nagte an ihm. Vor allem die Frage nach dem Schicksal von Dan und Batuti. Wieder und wieder zog die Erinnerung an die letzte Woche in einer Folge messerscharfer Bilder an seinen inneren Augen vorbei. Wieder und wieder fragte er sich, ob er irgendwo einen Fehler begangen hätte.

      Angefangen hatte es mit dem Irren, den sie auffischten: einem von seiner Mannschaft ausgesetzten Piratenkapitän, der den Verstand verloren hatte und nur noch von seiner Rache faselte. Eines nachts war der Verrückte verschwunden gewesen. Und mit ihm Dan und Batuti, die er wohl gezwungen hatte, ein Boot abzufieren und ihn zu der Insel zu pullen – jener Insel, auf deren Riff die Galeone der Piraten als zerschmettertes Wrack lag.

      Als sie zurücksegelten, hatten die Seewölfe nicht ahnen können, daß sich sechzehn Überlebende der Katastrophe auf der Insel verbargen. Hasard selbst hatte den kleinen Suchtrupp angeführt, den die Piraten in einen gemeinen Hinterhalt lockte. Und danach brauchte Jean Morro, der Bretone, nur noch damit zu drohen, seine Gefangenen einen nach dem anderen umzubringen, wenn man seine Bedingungen nicht erfüllte.

      Ben Brighton hatte sich in dieser Situation dafür entschieden, die „Isabella“ auszuliefern.

      Und Hasard wußte glasklar, daß er an Bens Stelle genauso gehandelt und nicht einen einzigen seiner Männer geopfert hätte. Das Schicksal war gegen sie gewesen. Sie hatten eine Niederlage einstecken müssen – und sie waren unterwegs, um diese Niederlage wieder auszubügeln.

      Denn sie kannten das Ziel der Piraten.

      Chiapas war es, jenes kleine Stück grüner Hülle südöstlich der Landenge von Tehuantepec.

      Maya-Land! Eine geheimnisvolle, unerforschte Wildnis, in der die Piraten einen legendären Schatz zu finden hofften. Das allerdings konnten die Seewölfe und die Männer der Roten Korsarin zu diesem Zeitpunkt nur ahnen. Denn Dan O’Flynn hatte nicht mehr als das Wort „Chiapas“ in einen Felsen ritzen können, bevor er von der Insel verschleppt wurde.

      Der Seewolf lächelte grimmig, als er daran dachte, wie sie es geschafft hatten, die verdammte Insel wieder zu verlassen.

      Die versprengte spanische Karavelle hatte wie gerufen die Insel angelaufen. Noch ehe der schwarze Segler die Insel entdeckte, hatten die Seewölfe die „Santa Monica“ gekapert. Und jetzt waren es die Spanier, die auf dem öden Eiland festsaßen und darauf hofften, daß man sie finden würde.

      Der schwarze Segler und die kleine Karavelle waren bisher Nordkurs gelaufen. Aber jetzt hatten sie bereits die Höhe von Managua, und wenn die Karten nicht trogen, würden sie bald Land sehen. Hasard spähte unwillkürlich zum Großmars hoch, und Ben Brighton, der neben ihm auf dem Achterkastell stand, warf ihm einen Blick zu.

      „Glaubst du immer noch, daß wir die ‚Isabella‘ vor Chiapas einholen?“ fragte er verhalten.

      Der Seewolf schüttelte den Kopf.

      Als sie von der Insel aufbrachen, war er überzeugt gewesen, daß sie die Piraten schnell erwischen würden. Die „Isabella“ war hoffnungslos unterbemannt, selbst wenn man Dan und Batuti dazuzählte. Aber die See, die ihnen in den letzten Wochen so oft die Zähne gezeeigt hatte, schien ihnen jetzt wie zum Hohn ihr freundlichstes Gesicht zu präsentieren.

      Stunde um Stunde, Tag um Tag wehte dieser gleichmäßige, sanfte Ost. Nichts wies darauf hin, daß sich das Wetter ändern würde. Der Seewolf hatte mittlerweile ein sicheres Gespür für das Wetter in diesem Teil der Welt entwickelt. Unter solchen Bedingungen segelte sich die „Isabella“ fast von selbst. Da würde es schwer, wenn nicht unmöglich sein, ihren Vorsprung aufzuholen.

      „Wenn wir sie nicht vor Chiapas erwischen, dann eben in Chiapas“, sagte Hasard hart. „Und wenn wir jede Bucht und jeden Fluß einzeln absuchen.“ Er schwieg einen Moment und zog die Brauen zusammen. „Vielleicht ist es ohnehin besser, bis Chiapas zu warten“, fuhr er fort. „Dort können wir die Kerle aufsplittern. Oder Dan und Batuti im Handstreich auf dem Landweg befreien. Wenn wir die ‚Isabella‘ in offener Seeschlacht stellen, werden die Piraten ihre Gefangenen vermutlich als Geiseln benutzen.“

      „Auch wieder wahr“, murmelte Ben Brighton. „Wir könnten Fühlung halten und …“

      Er wurde jäh unterbrochen.

      „Land ho!“ sang Bob Grey im Großmars aus. „Land Steuerbord voraus!“

      Hasards Blick suchte den schwarzen Segler, der weit voraus als Schatten zu erkennen


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