Seewölfe - Piraten der Weltmeere 190. Kelly Kevin
Aspekte der menschlichen Natur zu vermitteln. Oder doch nicht? Bei den Gauklern, mit denen sie bis zu ihrem siebenten Lebensjahr herumgezogen waren, hatte es eine bauchtanzende Lady namens Suleika gegeben, die keine Lady gewesen war. Und das Talent der Zwillinge, immer genau das aufzuschnappen, was nicht für ihre Ohren bestimmt war, konnte sich sehen lassen.
Hasard verschob die Frage.
Denn inzwischen hatte auch er die Südsee-Lady etwas genauer betrachtet – als Kapitän mußte man sich schließlich orientieren – und dabei festgestellt, daß Grasrock und Blütenkranz der Schönen reichlich zerrauft wirkten. Sie sah nicht so aus, als befinde sie sich freiwillig auf dem Auslegerboot. Als sich die „Isabella“ jetzt näherte, glaubte der Seewolf, in den großen, dunklen Augen einen deutlich flehenden Ausdruck zu erkennen.
Auch den anderen entging das nicht.
Blacky verzog grimmig das Gesicht. Sam Roscill kippte fast außenbords, weil er sich dermaßen den Hals verrenkte. Luke Morgan winkte lebhaft, und die Südsee-Lady produzierte ein Lächeln, bei dem ein Eisberg aufgetaut wäre.
Im nächsten Moment sprang sie auf, federte in den Knien und hechtete mit einem eleganten Sprung ins Wasser.
Kein Zweifel: sie schwamm auf die „Isabella“ zu. Sekundenlang waren die Eingeborenen in dem Auslegerboot verblüfft. Dann erhob sich ein wildes Wutgeschrei, und zwei von den braunhäutigen Gestalten sprangen dem Mädchen nach.
Und noch jemand sprang: nämlich Smoky, der Decksälteste.
Bei ihm fiel der Sprung nicht so elegant aus, aber dafür wühlte seine bullige Figur sehr eindrucksvoll das Wasser auf. Die beiden Männer, die der Südsee-Schönen nachschwammen, um sie zurückzuholen, wurden etwas langsamer. Smokys klotzige Gestalt gebot Respekt. Zumindest ließ sie es geraten erscheinen, sich die Sache noch mal durch den Kopf gehen zu lassen. Die beiden Eingeborenen taten das offenbar. Bevor sie mit ihren Überlegungen fertigwaren, hatte Smoky die braunhäutige Lady bereits erreicht.
Daß er einen Arm um ihren Körper schlang und sie sozusagen abschleppte, war nach Hasards Meinung völlig überflüssig: schließlich sah jeder, daß die Lady schwimmen konnte wie ein Fisch.
Die Insulaner heulten vor Wut.
Blitzartig änderten sie den Kurs, hielten auf die „Isabella“ zu und fischten unterwegs ihre schwimmenden Genossen auf. Smoky erreichte mit ein paar letzten kräftigen Stößen die Galeone. Blacky und Luke Morgan hatten inzwischen eine Jakobsleiter ausgebracht, und der Deckälteste ließ mit galanter Geste der Lady den Vortritt.
Die braunhäutige Schöne konnte nicht nur schwimmen wie ein Fisch, sondern auch klettern wie eine Katze.
Es dauerte nur Sekunden, bis sie sich über das Schanzkleid schwang. Smoky folgte dichtauf, und im selben Augenblick erreichten die Auslegerboote der Eingeborenen die „Isabella“.
Mit Gebrüll versuchten sie, aufzuentern.
Die Seewölfe sahen sie sich an. Speere und Keulen, registrierte Hasard. Nicht gerade eine Art von Bewaffnung, wegen der man gleich Klarschiff zum Gefecht machen mußte.
Während Smoky die Südsee-Lady in Sicherheit brachte, ballten Ferris Tukker, Ed Carberry und ein halbes Dutzend anderer erwartungsvoll die Pranken.
Die Angreifer veranstalteten ein Geschrei, mit dem sie sich wahrscheinlich selbst zur Weißglut anstacheln wollten. Die Seewölfe fanden Weißglut in diesem Fall übertrieben: mittelmäßiger Ärger genügte. Aber es war keiner von der Crew, der das Gefecht eröffnete, sondern Arwenack, der Schimpanse.
Der Affe hatte so seine Erfahrungen.
Wenn auf eine bestimmte Art gebrüllt wurde, konnte das nur heißen, daß im nächsten Moment die Fetzen flogen. Arwenack war ein kluges Kerlchen und verstand es durchaus, Freund und Feind auseinanderzuhalten. Wenn die Fetzen flogen, pflegte er sich in die Wanten zurückzuziehen. Wohlgemerkt mit einem soliden Belegnagel bewaffnet.
Der erste Angreifer, der sich über das Schanzkleid schwingen wollte, verspürte einen dumpfen Schlag, der aus dem Nichts zu erfolgen schien, und kippte wieder außenbords.
Einen zweiten Mann riß er mit. Das Wasser klatschte. Ferris Tucker beugte sich ungeduldig vor, weil ihm die Sache zu lange dauerte. Der dritte Mann schob soeben den Kopf über das Schanzkleid, doch nur für Sekunden, bis ihn die mächtige Faust des rothaarigen Schiffszimmermanns erwischte.
Es war ein Hammerschlag von oben nach unten, und der kostete nicht nur den Getroffenen das Bewußtsein, sondern räumte zugleich die Jakobsleiter leer.
Die Seewölfe rieben sich die Fäuste und warteten. Philip Hasard Killigrew schüttelte den Kopf.
„Einholen!“ schrie er.
„Einholen, ihr hirnrissigen, dreimal kalfaterten Decksaffen!“ nahm Carberry den Befehl auf.
Ferris Tucker und Luke Morgan griffen zu und holten die Jakobsleiter ein. Da sie herzhaft zugriffen, wurden gleich noch drei, vier von den heulenden Eingeborenen ins Wasser geschüttelt. Sie paddelten herum und schnitten grimmige Gesichter, aber da sie keine Flügel hatten, gab es keine Chance mehr für sie, an Bord zu gelangen.
„Deckung!“ schrie Dan O’Flynn, der mit seinen scharfen Augen Gefahren immer etwas früher erkannte als andere.
Diesmal war seine Warnung überflüssig, da die Seewölfe schon von selbst in die Deckung des Schanzkleids tauchten. Ein Hagel von Lanzen zischte heran, die die Männer in den Auslegerbooten mit verzweifelter Wut geschleudert hatten.
Der blonde Stenmark, dem fast die Zehen durchbohrt wurden, vollführte einen Luftsprung und fluchte. Batuti, der hünenhafte Gambia-Neger, blickte kopfschüttelnd auf die Waffe, die sich neben ihm in den Mast gebohrt hatte, zog sie heraus und schleuderte sie zurück ins Wasser.
„Bist du verrückt, du schwarzer Affe?“ fauchte Ferris Tucker aufgebracht.
„Selber verrückt, rothaariges Riesenaffe“, knurrte Batuti. „Lanze hat schweres eiserne Spitze, also sie sinkt. Klar?“
In solch schauderhaftes Englisch fiel Batuti nur noch zurück, wenn er sich ärgerte. Ferris Tucker schnaufte und spähte über das Schanzkleid. Die Eingeborenen, die im Wasser schwammen, kletterten gerade wieder in die Auslegeboote, triefend und vermutlich fluchend, obwohl die Seewölfe das bei der fremden Sprache nicht so genau unterscheiden konnten.
In aller Eile wurden die Boote gewendet.
„Ruhmloser Rückzug“, meldete Luke Morgan. „Schade!“
Seine Ansicht wurde allgemein geteilt.
Niemand hätte etwas gegen einen handfesten Kampf einzuwenden gehabt. Aber dafür hatten sie jetzt eine Sammlung fremdartiger Lanzen an Bord, für die sich vor allem die Zwillinge brennend interessierten. Und eine fremdartige, leichtbekleidete Lady, die triefend auf der Kuhl stand und Smoky, den Decksältesten, offensichtlich als ihren Lebensretter anhimmelte.
Philip Hasard Killigrew kletterte vom Achterkastell ebenfalls auf die Kuhl hinunter.
Daß er innerlich stöhnte und sich versucht fühlte, sämtliche Schutzheiligen der englischen Seefahrt anzurufen, wußte nur er selber.
„Ich – Nuami.“
Die Perle der Südsee legte die Hand auf die Brust und lächelte. Hasard war einigermaßen verblüfft, genau wie die Männer.
„Sie sprechen Englisch?“ fragte er.
„Ja – gelernt von Großes Donnerer.“
„Wovon?“ fragte Smoky perplex.
Nuami, klatschnaß, aber unübersehbar bildhübsch, schenkte ihm einen tiefen Blick aus großen schwarzen Glutaugen.
„Von Großes Donnerer“, wiederholte sie geduldig. „Schöner Mann! Guter Mann mit gutes Donnerrohr.“
Smoky, der sich offenbar Nuamis besonderer Wertschätzung erfreute, kratzte sich verständnislos am Kopf. Hasard grinste, weil er ungefähr begriff, um was