Ich bin, was ich werden könnte. Mathias Wais
Zunächst einmal bin ich natürlich das, was ich und andere tagtäglich an mir erleben, was ich von mir weiß, was ich an mir kenne. Diese Seite des Menschen kann man das Alltags-Ich nennen. Es erkennt sich in der Erinnerung. Dass ich weiß, wovon ich geprägt bin, dass ich mich von meinen Eltern, dem elterlichen Milieu herleite; dass ich die Vorzüge und die Schattenseiten meines Temperaments kenne; dass ich in mir das gleiche Holz erkenne, aus dem alle Menschen der Gegend, aus der ich stamme, geschnitzt sind; dass ich weiß, was mir sympathisch ist, was unsympathisch; dass ich meine Vorlieben und Abneigungen kenne; dass ich meine Gewohnheiten und Sicherheiten habe; dass ich vermeide, was mir Unsicherheit bedeuten würde; dass ich meine Überzeugungen und politischen Meinungen habe – all das ist mein Alltags-Ich. Wenn mich jemand fragt, wer ich bin, wenn ich mich jemandem beim Kennenlernen vorstellen will, dann erzähle ich ihm davon.
Nun hat das vorangehende Kapitel gezeigt, dass dies – entgegen dem alltäglichen Anschein – noch nicht alles sein kann, was einen Menschen ausmacht. Es war zu sehen, dass besonders in Situationen der Krise, des Übergangs noch etwas anderes aufscheint. Die Krise, so wurde dargelegt, besteht ja eben darin, dass das Alltags-Ich nicht mehr weiterhilft. Es greift nicht mehr, was es sich bis dahin erworben oder was es als Grundausstattung mitgebracht hat: Fähigkeiten, Erfahrungen, Eigenschaften. Der Entwicklungsschritt, der nun ansteht, kommt nicht aus dem Alltags-Ich.
Das Alltags-Ich kann auch logischerweise nicht der Entwicklungsmotor sein. Biographie wäre dann nämlich nur die ständige lineare Fortschreibung dessen, was es bereits von sich kennt. Sie wäre eine Fortschreibung des Gewordenen. Das Alltags-Ich, das sich nur aus der Erinnerung kennt, besteht aus Gewordenem, aus Elementen also, die ihre Entwicklung schon hinter sich haben. Der Entwicklungsschritt besteht aber darin, dass jetzt, indem es sich aufrichtet, etwas qualitativ Neues in das Leben kommt. Der Entwicklungsschritt geht über das Gewordene hinaus.
Um es, der Deutlichkeit wegen, etwas schärfer auszudrücken: Das Alltags-Ich ist Gewordenes, Geronnenes, es ist immer gekennzeichnet durch ein Element der Erstarrung. Was früher vielleicht errungen und erobert werden musste, ganz individuell von mir, das ist jetzt, da ich es errungen habe und zu meinem Inventar zähle, typisch geworden, typenhaft. Es ist eine Art Maske, deren Wesen es ist, das Individuelle zu verbergen. »Persona« heißt im Lateinischen »Maske«. Das Wort leitet sich her von »personare«: hindurch-tönen. Also meine Persona, mein Alltags-Ich, das ist die typische Seite an mir. Dahinter gibt es noch eine individuelle Seite, die in Momenten des Übergangs durch mein Alltags-Ich hindurchtönt.
Das Wesen des Alltags-Ich ist Beharrung, Verbleiben bei dem, was man von sich kennt. Das Wesen des Höheren Ich ist die Wandlung. Das Höhere Ich weiß um alle Sinnmöglichkeiten, die sich in meinem diesmaligen Erdenleben vergegenwärtigen könnten. Es hält den roten Faden – tatsächlich sind es immer mehrere rote Fäden – meines Lebens in der Hand, es kennt meine Geburtsimpulse und Lebensaufgaben, für die ich angetreten bin. Das Höhere Ich ist der Geistkern, der von Erdenleben zu Erdenleben wandert, jedesmal verändert und bereichert um die Erfahrungen, die eine bestimmte Individualität in einem Erdenleben mit sich gemacht hat und deren Quintessenz nun weitergetragen wird in den Ansatz eines erneuten Erdenlebens.
Das Höhere Ich ist die einzige Instanz im Menschen, deren Wesen Vorausblick, Vorangehen und Suche nach weiterführender Wandlung ist. So ist dieser innerste Kern, obwohl nie so direkt anschaubar und zugänglich wie das Alltags-Ich, der natürliche Verbündete des Beratenden in der Biographieberatung.
Unter den anderen Instanzen bewegt sich das Gefühl in der Sphäre des Reagierens und kommt insofern immer hinterher. Auch da, wo es um das Fühlen von Zukünftigem geht, um Vorausahnung, Befürchtung und Angst, auch Vorfreude, sind wir in der Sphäre des Reagierens: Das Gefühl braucht einen vorgängigen Inhalt – der auch nur vorgestellt sein kann –, auf den es antworten kann. Darin liegt nichts Verkehrtes, aber auch nichts Richtung-Gebendes.
Und dann die Gewohnheiten im Tun und Denken: Sie leben erst recht aus der Vergangenheit. Man tut oder denkt etwas, weil man schon lange so tut und denkt und weil es sich bewährt hat. Auch diese Ebene im Menschen sucht das Neue nicht. Sie sucht das Geregelte, Feste, allgemein Anerkannte und persönlich Bewährte.
Schließlich die physische Seite des Menschen: Sie in eine Wandlung hineinzunehmen, ist das Schwierigste. Manchmal erlebt man es: Jemand blüht körperlich auf in einer neuen Begegnung; jemand verjüngt sich über seine seelische Bewegung hinaus bis ins Leibliche, weil er geliebt wird. Aber auch in dieser Situation geht die Wandlung nicht von der Ebene des Physischen aus.
Es ist nur das Höhere Ich, das die Wandlung sucht und sie auch impulsieren kann. Nur das Höhere Ich sucht die Zukunft. Mit ihm zunehmend – wenn auch nie endgültig, so doch annäherungsweise – in Übereinstimmung zu kommen, könnte ein Sinn unseres Lebens sein.
Dadurch, dass uns ein Höheres Ich gegeben ist, sind wir immer mehr, als wir leben. Das Höhere Ich enthält immer wesentlich mehr Möglichkeiten, als wir verwirklichen. So hat jedes Menschenleben eine unabschließbare Tendenz. Es trägt einen »Überschuss« in sich, Möglichkeiten, die nie Gegenwart werden, eine Größe, die real oft nicht erreicht wird. Daraus ergibt sich die wesenhafte Zukunftsorientiertheit eines jeden Schicksals und jeder Schicksalssituation. Da ist immer etwas, das ich noch nicht bin.
Üblicherweise ist dieses Urbild wie verstellt durch das Alltags-Ich. Es gibt aber ein klares Unterscheidungskriterium, mit dem wir zumindest nachträglich versuchen können auseinanderzuhalten, was Alltagsseite und was wesenhafte Seite an einem Menschen ist: Was zum Höheren Ich gehört, wandelt sich. Was in die Sphäre des Urbildes rückt, wird den Impuls haben, sich zu wandeln. Aus jugendlichem Zorn wird beim Erwachsenen Milde. Was zum Alltags-Ich gehört, hat die Neigung zu bleiben und sich zu verhärten, ja unter Umständen auch zu karikieren. Der jugendliche Zorn wird beim Erwachsenen Hass. Etwas ist vom Höheren Ich ergriffen, wenn es in die wandelnde Tat hineingenommen wird.
Damit hängt ein zweites Unterscheidungskriterium zwischen Alltags-Ich und Höherem Ich zusammen: Die Wandlung ist nicht einfach Veränderung. Der jugendliche Zorn wurde unter mancherlei und großer Anstrengung, in Selbstüberwindung und in vielen Momenten des Aufraffens und der Selbsterkenntnis zur Milde gewandelt. Es wird nicht einfach nur so, von allein, etwas anderes daraus. Das Neue, das aus dem Alten entsteht, ist immer errungen.
Dagegen ist Merkmal des Alltags-Ich entweder die Beharrung bis zur seelischen Sklerose oder die beliebig erscheinende Veränderung: Heute studiere ich Kunst; letztes Jahr war ich auf dem Erzieherseminar; nächste Jahr mache ich eine Weltreise, und danach werde ich Mutter einer zahlreichen Kinderschar sein. – Auch das ist Alltags-Ich, denn die Veränderungen sind nicht errungen, sondern ausgedacht oder herbeigefühlt. Dahinter ist wieder die Neigung zum Beharren des Alltags-Ichs zu erkennen: Ich will bei meinem Selbstbild (beim künstlerischen Menschen mit tausend Möglichkeiten) bleiben. Würde ich mich auf nur eine der vielen Situationen, die ich für mich für möglich halte, einlassen, bestünde die Gefahr, dass ich meine Grenzen, meine Begrenztheit kennenlernte. Und das erst wäre, in diesem Zusammenhang, der Beginn einer eigentlichen Wandlung.
Die Biographieberatung erstrebt eine Art Imagination des Höheren Ichs des Ratsuchenden. Diese wird so nie Wirklichkeit werden, aber sie wird die Wirklichkeit immer mehr in ihren gestaltenden Griff nehmen können. Das Höhere Ich ist ein Tatwesen. Es sucht nie die Sicherheit und Gewöhnung, sondern die wandelnde Tat. Und darin liegt die Chance der Biographieberatung, die im vorangegangenen Kapitel als eine Art Entwicklungshilfe beschrieben wurde. Der zu Beratende wird zu immer sehr einfachen Wandlung freisetzenden Taten angestiftet: Gewohnheiten vorübergehend ändern, Unsicherheiten gezielt aufsuchen, die Dinge unter neuer Perspektive anschauen und dergleichen mehr.
Das Höhere Ich kann man inhaltlich nicht so bestimmen, wie man das Alltags-Ich eines Menschen bestimmen und beschreiben kann. Sein Wesen ist Aufbruch. In gewisser Weise gibt es das Höhere Ich jetzt noch gar nicht. Es ist immer das, worauf das Schicksal erst hinauswill. Das Höhere Ich hat nicht Eigenschaften, die man etwa irgendwie psychologisch messen könnte. Seine Substanz ist Aufbruch.
Wie aber kann man dann versuchen, sich ein Bild vom Höheren Ich eines Menschen zu machen?
Wir erkennen den Wesenskern eines Menschen an seinem Werden, an seinen zu Neuem aufbrechenden – inneren oder äußeren